Familienfoto aus dem Jahre 1910:
Vater Dr. Karl-Eugen Müller mit Renate und Mutter Mariquita mit Gabriele.
Renate verlebt mit ihrer 2 Jahre jüngeren Schwester Gabriele, mit der sie Zeit ihres Lebens verbunden bleibt, dem Kindermädchen Agathe (von den Kindern „Adaate“ genannt) und einigen großen Hunden glückliche Jugendjahre in der bayerischen Hauptstadt, oder genauer gesagt, in der Künstlerkolonie in Emmering. Dort, fünfundzwanzig Kilometer von München entfernt, haben sich die Eltern ein Landhaus mit einem riesigen Garten am Ufer der Ammer, einem Nebenfluß der Isar, gebaut. Als Kind soll die kleine Renate ein frecher, unfreiwillig komischer Fratz gewesen sein, kugelrund und alles andere als hübsch.
Sie wächst in einem liberal orientierten Elternhaus auf, das früh ihre Selbstsicherheit fördert. Diese Selbstsicherheit wird erst in den Jahren vor ihrem Tod sukzessive weniger.
Die kleine Renate kann drollig sein und steckt dann alle mit ihrem Lachen an. Mal ungebärdig, mal schrecklich lustig, dann wieder völlig dickköpfig bringt ihre Eltern, kaum dass sie sprechen kann, mit ihren tausend Fragen oft in Verlegenheit. Selbst wildfremde Leute, z. B. in der Straßenbahn, spricht sie an: „Onkel, warum hast du so gräßlich rote Haare?“ Oder: Renate geht mit den Eltern bei strahlendem Sonnenschein in München spazieren.
Plötzlich will sie einen Regenschirm aufspannen und ist von diesem Vorhaben nicht mehr abzubringen. Die Eltern versuchen es mit Zureden, Verbot und Strenge - nichts hilft. „Ich will, ich will, ich will!!!“ Der Dickkopf wird stärker, Renate setzt sich auf das Straßenpflaster und ist nicht mehr zu bewegen, auch nur noch einen Schritt weiterzugehen. Karl-Eugen muß sich seine Tochter schließlich unter den Arm klemmen und sie nach Hause tragen.
Diese Eigenwilligkeit ist ein Erbe der Frederichs, der Familie ihrer Mutter. Renate lernt sehr schnell lesen und die ersten Märchenbücher können die Wißbegier des kleinen Mädchens kaum stillen. Tante Anna meint mitleidslos: „Wie gut, dass das Kind wenigstens klug ist, sonst hätte sie es mit ihrer Stupsnase und überhaupt dem Gesicht einmal schwer im Leben.“ 2
Im Frühjahr 1912 wird Renate eingeschult. Im Sommer besucht sie die Dorfschule in Emmering, im Winter die Münchner Volksschule. Den Lehrern an beiden Schulen fällt Renates reger Geist auf, vor allem ihre nicht zu stillende Wiß- und Lernbegierde. Auch bekommt sie Klavierunterricht und trällert, zu Geburtstagen oder zu Weihnachten, ganz ohne Scheu, den Gästen ihre Lieder vor.
Der erste Schultag, München 1912.
Für den Sommer 1914 ist eine Reise an die See geplant. Vorher wird der Großmutter Margarethe Frederich, der Mutter von Mariquita, in Hamburg ein Besuch abgestattet. Hier erfährt Familie Müller vom Attentat auf das österreichische Thronfolgerpaar. Als am 1. August plötzlich der Krieg ausbricht, fährt die Familie Hals über Kopf zurück nach München, ohne dass die Kinder das Meer sehen konnten.
Jubelnd und voller Freude ziehen die bayerischen Regimenter durch die Straßen Münchens, an die Front. Überall werden patriotische Ansprachen gehalten, Lieder gesungen und Hochrufe auf den Kaiser und den König ausgebracht. „Deutschland, Deutschland über alles!“ hallt es aus allen Kehlen. Der Krieg wird in ganz Europa ähnlich gefeiert. Diese Ausgelassenheit hält nicht lange an. Die ersten Verwundeten- und Gefallenenlisten ernüchtern die Bevölkerung. Gasangriffe und Stellungskrieg an den Fronten zeigen die Schrecken des Krieges und stürzen das scheinbar zivilisierte Europa in die erste große Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts.
Auch der siebenunddreißigjährige Karl-Eugen wird eingezogen. Unverletzt kehrt er nach kurzer Zeit wieder zurück und wird an der Heimatfront eingesetzt.
Während der Kriegsjahre gehen Renate und ihre Schwester in Emmering in die Dorfschule. Für die bayerischen Mitschüler sind die Namen Renate und Gabriele schier unaussprechlich fremdartig und so bekommen sie die Spitznamen „Propeller“ und „Granaten“. Die Mädchen fühlen sich in Emmering wohl und haben sich längst an das Landleben und die dortigen Lebensgewohnheiten angepaßt. Renate und Gabriele gehen sogar wie die Dorfkinder barfuß oder in Holzpantinen in die Schule. Die beiden Stadtkinder gehören zur dörflichen Gemeinschaft und haben einen großen Freundeskreis. Natürlich wollen sie mit ihren Freundinnen die anstehenden katholischen Feiertage begehen. Gabriele: „Eine Erinnerung hat sich schmerzhaft in unsere Kinderherzen eingegraben. Obzwar evangelisch, machten wir mit frischgestärkten weißen Kleidchen, riesengroßen Haarschleifen und ebensolchen bunten Schärpen die Fronleichnamsprozession in Emmering mit. Alles ging gut, wir hatten die Gebete in der Dorfschule abgehört, knicksten an den vor schriftsmäßigen Stellen und sangen brav mit hellen Stimmchen im Chor mit. Aber dann, in der Klosterkirche von Fürstenfeldbruck, dem Ziel der Prozession, durften wir ‚Ketzerkinder‘ nicht zum Altar! Ausgestoßen aus der Gemeinschaft und konnten doch gar nicht begreifen warum! Wir haben fassungslos geheult.“ 3
Der Vater als Kriegssoldat mit seinen Töchtern, links Renate, 1916.
1918: Nach vier Jahren Krieg ist die anfängliche allgemeine Begeisterung endgültig der völligen Ernüchterung gewichen. Fast jede Familie hat einen Vermißten, Verwundeten oder gar Gefallenen zu beklagen. Mit der militärischen Niederlage und der Abdankung Kaiser Wilhelms II. sowie aller deutschen Bundesfürsten am 9. November 1918, kommt es zum revolutionären Aufbegehren des Volkes. Vom Berliner Reichstaggebäude ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die erste „Deutsche Republik“ aus. In München wird Kurt Eisner zum bayerischen Ministerpräsidenten gewählt, dieser erklärt Bayern zur Republik. Stärkste Partei im Landtag wird die Bayerische Volkspartei. Im März 1919 brechen auch in München Unruhen aus. Revolutionäre Gruppen rufen die „Räterepublik Baiern“ aus, Reichstruppen werfen den Aufstand nieder. Renates Vater steht in dieser Zeit aus politischen Gründen mehrfach auf einer Geiselliste der „Herren Räte“. Der drohenden Verhaftung kann er nur entgehen, weil ein Freund ihm rechtzeitig einen Wink gibt.
Zur gleichen Zeit finden in Weimar Wahlen zur Nationalversammlung statt, wo die Sozialdemokraten zur führenden politischen Kraft in Deutschland angewachsen sind. Die Verfassung am 11. August 1919 legt das Fundament der „Weimarer Republik“, den Weg zu einer neuen demokratischen Gesellschaftsordnung. Mit der „Bamberger Verfassung“ wird Bayern am 15. September 1919 zum Freistaat innerhalb des Deutschen Reiches erklärt. Nachdem sich die Lage beruhigt hat, zieht Familie Müller wieder nach München, in den intellektuell-bohemienhaften Stadtteil Schwabing zurück, da Karl-Eugen die Chefredaktion der Münchner Neuesten Nachrichten übernommen hat. Gabriele erinnert sich: „Die Kriegsjahre waren nicht schön für Kinder in München, die immer Hunger hatten und nicht verstanden, warum die Mutter ihnen nur zwei Scheiben Brot gab. Und dann: Gemüse, Bratklopse, süße Puddings, Marmelade, Auflauf - alles aus Steckrüben! Wir können heute noch keine Kohlrüben essen.“ 4
Die Kinder gehen wieder regelmäßig zur Schule, die durch die politischen Wirren kurz unterbrochen war. Auf dem Schulhof sind sie als "Preißen" verschrien, weil Renate und ihre Schwester für bayerische Begriffe ein dialektfreies Hochdeutsch sprechen. Karl-Eugen, der aus der Pfalz stammt und Mariquita, die einen norddeutschen Tonfall hat, achten auf die Aussprache ihrer Kinder. Dennoch spricht Renate nach kurzer Zeit um nicht aufzufallen mit unverfälschtem Münchner Dialekt. Freundinnen von Renate erzählen, dass sie eine der begabtesten Schülerinnen des Lyzeums in München gewesen sei. In dieser Zeit entwickelt sich Renates Theaterleidenschaft, und mit ihren Schulfreundinnen veranstaltet sie zu Hause Aufführungen. Alte Faschingskostüme und die Kleider der Mutter sind die Fundgrube für die kindlichen Phantasien. Regie, Hauptdarstellerin und die Texte stammen natürlich von Renate Müller - die anderen Mädchen müssen nur das machen, was Renate ihnen sagt. Am Schluß sind sämtliche Mitwirkenden entweder erdolcht, erhängt oder zu Tode gemartert; Renate hat es so beschlossen!
In den Schulferien fährt die Familie gerne in die Alpen, wo ausgedehnte Bergwanderungen unternommen werden. Die Liebe zum Gebirge, zum bayerischen Landleben, wird Renate nie verlieren.
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