»Er war krank«, sagte Hanna scharf.
»Richtig, Malaria hat er vorgeschoben.«
»Und dann war er verschollen«, sagte Hanna.
»Liegt auch in der Familie.«
Hannas Augen fauchten.
Grete sah auf ihre Eieruhr und stand auf. »Ich halte dann mal lieber die Klappe, sonst muß ich mir auf meine sehr alten Tage noch eine neue Bleibe suchen.« Sie ging in die Küche.
Hanna schwieg, Jakob tastete sich voran. »Das heißt, Du kennst Deinen Vater gar nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben nichts vermißt.«
»Und Eure Väter haben nie versucht, Kontakt zu Euch aufzunehmen?«
»Sie wußten ja nichts von uns. Tilla hat sie auf ihren Auslandsreisen ausgesucht, um sich von ihnen schwängern zu lassen.«
»Eine sehr freie Frau.«
Grete kam zurück. Um die Rechte ein Handtuch gewickeln, blancierte sie das schwere Bügeleisen.
»Ihre Unabhängigkeit war für uns immer ein Vorbild«, sagte Hanna.
»Vorsicht Jakob«, sagte Grete, »jetzt wirdʼs für Dich gefährlich.«
»Sie hat sich nie in ihr Leben hineinreden lassen«, sagte Hanna. »Außer von Ihrer besten Freundin.«
Grete drückte das Bügeleisen auf den nächsten Vorhang. »War auch öfter nötig«, sagte sie mit rauher Stimme.
»Genaugenommen war Grete überhaupt die Einzige, auf die sie gehört hat.«
»Außer, wenn es um Männer ging.«
»Also weißt Du auch nichts …«, Jakob zögerte.
»Über ihre Liebhaber?« Grete grinste. »Erzählt hat sie viel. Alles eigentlich.« Sie nahm den Wasserzerstäuber und sprühte mit Schwung den Vorhang ein. »Aber nicht, wer sie waren, das war ihr ehernes Gesetz.«
»Und als sie verschwand? Hatte sie da gerade jemanden?«
»Sicher«, sagte Grete. »Sie konnte nie lange ohne. Außerdem war das kurz nach Mauerfall, in einer sehr erotischen Zeit.«
Jakob erinnerte sich. Es hatte geknistert, rund um die Uhr. Wer damals nachts schlief, war kein Berliner. Auch er war Mädchen im Vorübergehen begegnet. Die Zeit hatte stillgestanden. Sie lebten alle in einem Vakuum und warteten, daß irgendwann der Alltag zurückkehrte. Fremde Frauen, fremde Gerüche, eine andere Sprache, ein anderes Berlin. Er seufzte.
»Na, Kommissarchen?« Grete gackerte.
Jakob zog sich schweren Herzens aus der Erinnerung. »Ihr wart hier, am 9. November ʼ89?«
Beide Frauen nickten. »Meine Schwestern waren ja deutlich älter und schon Jahre zuvor in alle Welt ausgeflogen«, sagte Hanna.
Grete sah zu Gregor. »Und Du, schweigsamer Hauswart?«
»Auch in Berlin«, sagte Gregor und stieg von der Leiter, um Grete den nächsten Vorhang abzunehmen. »Allerdings kam ich von der anderen Seite der Mauer.«
»Du bist Ossi?«, fragte Hanna.
»Hätte ich jetzt nicht gedacht«, sagte Grete. »Wieso haben wir nie darüber gesprochen?«
Gregor stieg mit dem Vorhang auf die Leiter, seine starken Schultern spannten sich. »Ist lang her.«
»Und, war es für Dich auch erotisch?«
»Grete!«
»Was?«
»Hat etwas gedauert, bis er sich rausgetraut hat«, sagte Gregor.
»Die sind eingelaufen«, sagte Grete.
Gregor drehte sich zu ihr um. »Wer?«
»Komm runter, Ossihauswart, und sieh es Dir an.«
»Mindestens zehn Zentimeter«, sagte Hanna.
Gregor stieg von der Leiter und sah kopfschüttelnd auf die Vorhänge mit Hochwasser.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Hanna.
»Nüscht«, sagte Grete. »Uns dran gewöhnen.«
»Sieht aber schon ein bißchen scheiße aus«, sagte Gregor.
Grete klappte das Bügeleisen zusammen. »Im nächsten Schaltjahr lasse ich den Saum raus. Oder besser, wenn Jakob Tilla gefunden hat, zur Feier des Tages.«
»Sehr witzig«, sagte Hanna.
»War nicht als Witz gemeint. Was glaubst Du, wird er finden, unser Geisterseher? Denn, daß er sie findet, darauf verwette ich meinen schrumpeligen Arsch. Ich nehme doch an, Du hast darüber nachgedacht, als Du ihn gebeten hast, daß er sie für sein Herzblatt sucht?«
»Ich will nur wissen, ob sie mich verlassen hat«, sagte Hanna. »Ob mich meine starke Mutter, der Mittelpunkt unserer Welt, einfach verlassen hat.«
Grete strich ihr über den Kopf. »Ach Kindchen. Und wenn, dann konnte sie nicht anders.«
Hanna sah Jakob an. »Genau das will ich wissen.«
VI
Mathilde Albertine Jolante von Bredow, genannt Tilla, verlor alles, als sie vierzehn war. Der Geschützdonner rückte näher, der polnische Verwalter des elterlichen Gutes in Ostpreußen stand mit ruhelosem Blick neben dem gepackten Wagen und stieg von einem Bein auf das andere.
Sie hatten seit Monaten nichts von Tillas Vater oder ihren älteren Brüdern gehört. Tillas Mutter lief durch die Zimmer und jammerte, man solle ihr sagen, was zu tun sei. Der vollgestopfte Wagen stand mit laufendem Motor dampfend in der Kälte und Tilla entschied sich zur Flucht. Sie wußte nicht, was sie tat, hatte noch keinen Ort und niemanden verlassen und kannte nichts außer ihrer Heimat.
In der nahen Kreisstadt verloren sie ihr Auto an einen Offizier. Der Verwalter kaufte für einen unverschämten Preis ein Pferdefuhrwerk mit eiernden Rädern und einen schielenden steinalten Ackergaul dazu. Das Pferd war ihr Glück. Alle anderen Flüchtlinge verloren ihre, aber der knochige Alte ließ sabbernd den schaukelnden Kopf hängen, wenn schneidige Uniformierte sich ihm näherten. Und er ging nicht einen Schritt, es sei denn, der Verwalter nahm seine Zügel.
Das Pferd blieb ihnen bis zur Reichsgrenze. Dort sank es auf seine steifen Vorderbeine, schnaufte schwer und starb. Der Verwalter segnete Tilla mit polnischen Worten, verbeugte sich vor ihr und ging zurück in seine Heimat.
Sie waren allein bei minus dreißig Grad und sie gingen zu Fuß. Tilla kaufte für all ihre Wertsachen den Handkarren eines Bauern, lud die letzten Habseligkeiten darauf und gab ihn der immer noch jammernden Mutter an die Hand. Sie selbst schnürte sich die ihnen gebliebenen Lebensmittel vor die Brust, den kleinen Bruder auf den Rücken und hieß ihn, seine Arme um ihren Hals zu schlingen.
In der nächsten Nacht nahm ein Mann die Mutter.
In der folgenden verloren sie den kleinen Bruder an die Kälte.
Die Seele der Mutter starb auf dieser Flucht. Sie verlernte zu berühren und sich berühren zu lassen, begegnete den Rest ihres Lebens sich selbst und anderen mit harter, hilfloser Hand.
Drei Monate nach Kriegsende erfuhren sie in Berlin, daß auch die übrigen Söhne den Krieg nicht überlebt hatten. Als Tilla ihrer Mutter die Todesnachricht überbrachte, ging die mit einer Axt auf ihr nun einziges Kind los.
Der herbeigerufene Arzt zuckte wortlos die Schultern, gab eine Spritze und ging.
Tilla verbarg Axt, Messer und Streichhölzer vor der Mutter, schloß sie ein, wenn sie etwas zu essen organisieren mußte und hielt sie zurück, als sie sich am Apfelbaum erhängen wollte. Erst nachdem die Mutter eine