Spenglers Nachleben. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783866747197
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Erscheinen sich (21.) zunehmend umfangreichen Nachlasserschließungen verdankt – mit den Prämissen früher veröffentlichter Werke noch vereinen lässt.

      All dies wird (22.) oft im Duktus hypothermaler Hypermaskulinität vorgetragen. Was wären Spengler und Kittler ohne die ständigen Beschwörungen von Kühle und Kälte? Die Medientheorie Kittlerscher Prägung ist eine Neuauflage jener Verhaltenslehren der Kälte, die Helmut Lethen am linken und rechten Rand der Weimarer Nachkriegskultur ausgemacht hat. Nicht zufällig war ›Eiszeit‹ eine prominente Selbstbeschreibung der deutschen Jugendkultur des Jahrzehnts, in dem Kittlers theoretische Eiswüsten wuchsen. Seine Medientheorie gehört zum new cold der 1980er, in der viel Energie darauf verwendet wurde, sich von der wärmer gestimmten Intimitätskultur des vorangegangenen Jahrzehnts abzusetzen. Winter is coming. Auf die Dauer jedoch, so Hans Ulrich Gumbrecht, war Kittler »die Kälte der eigenen medienhistorischen Gegenwartsdiagnostik […] unerträglich belastend geworden.«14 Mit seinem Eintritt in ein griechisches Reich, in dem die Sonne über der Ägäis nie unterzugehen scheint, mutierte er zum Theoretiker, der aus der Kälte kam. Diese Hypothermik ist (23.) eng verbunden mit einem Unbehagen an grassierenden humanistischen Anfechtungen, die oft so verärgert denunziert werden wie die Symptome einer verschleppten Krankheit. Stil und Attitüde beider verdanken sich dem fortwährenden Kampf gegen ihre inneren Sozialkundelehrer mit ihren homo homini agnus-Beteuerungen.

      Bei beiden ist (24.) viel von historischen variablen Manifestationen von Musik und Mathematik die Rede. Beide haben (25.) ein recht ambivalentes Verhältnis zur angloamerikanischen Domäne, so wie auch (26.) in beiden Fällen die englischsprachige Rezeption ein Gemisch aus Amputation und progressiver Entdeutschung darstellt, das sich mit herkömmlichen Rezeptionsmodellen nicht mehr einfangen lässt.15 Beide nehmen es (27.) mit ihren Zitaten nicht so genau, und beide legen (28.) eine ausgesprochene Anhänglichkeit an Friedrich Nietzsche an den Tag, die vor zuweilen peinlich wirkenden Identifikationen nicht zurückschreckt. Beide sind (29.) gebürtige Sachsen mit borussianistischen Neigungen: der eine lobt den preußischen Sozialismus, der andere das preußische Offizierswesen. Und schließlich (30.) schnappen beide wie verstörte Vierbeiner so emsig nach der Leine, die sie an Hegel fesselt, dass man nicht weiß, ob sie die Leine entzweibeißen oder eine bereits zerrissene mit ihren Zähnen zusammenhalten wollen.16

      Diesen Parallelen ließen sich ohne große Mühe dreißig weitere hinzufügen, doch ebenso leicht fiele es, sechzig offensichtliche Unterschiede zu benennen. Und noch einfacher wäre es, viele dieser vermeintlichen Parallelen als billiges Gerede zu entlarven. Vergleiche zwischen Kittler und Spengler laufen Gefahr, sich denselben Vorwurf einzuhandeln wie Spenglers Kulturvergleiche. Allzu oft bestehen sie aus dem Abhaken von Oberflächenähnlichkeiten, die bestenfalls zu aphoristischen Knalleffekten führen. Trotzdem: Einige der Analogien haben Hand und Fuß (oder, eingedenk der höheren Raubtiermetaphorik des späten Spengler: Klaue und Pfote). Es geht anders als im Falle Heideggers nicht um Einfluss. Selbst wenn er nachgewiesen werden könnte, die schwammige Allerweltskategorie Einfluss genießt ohnehin schon zu viel Einfluss. Eher findet sich das, was Biologen konvergente Evolution nennen: also die Tatsache, dass sehr weitläufig miteinander verwandte Organismen – z. B. Haie, Delfine und Ichthyosaurier – unter ähnlichen Umweltbedingungen ähnliche Strukturen entwickeln. Dieser ähnliche Umstand, so meine Ausgangsthese, ist der oben erwähnte achtzehnte Punkt. Sowohl bei Spengler als auch Kittler haben wir es – keineswegs ausschließlich, aber doch in entscheidendem Maße – mit Kriegsverarbeitungstheorien aus der Verliererperspektive zu tun. Das umfasst weitere Ähnlichkeiten, die oben schon erwähnt wurden und in den nächsten Abschnitten vertieft werden sollen.

       Ave Victi, vae victoribus

      Die Dichtung vom Untergang des Abendlandes hebt an mit einem Trommelwirbel:

      In diesem Buche wird zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.17

      Es gibt in der Weltliteratur nur einen anderen Text, der bereits im allerersten Satz so nachdrücklich auf seiner einzigartigen Vorreiterrolle besteht: »Je forme une entreprise qui n’eut jamais d’exemple et dont l’exécution n’aura point d’imitateur.« Ob Rousseaus Selbstanpreisung zu Beginn seiner Confessions berechtigt ist, sei dahingestellt, Spenglers ist es sicher nicht. Spätestens seit den detaillierten Belegen von Hans Joachim Schoeps ist bekannt, wie sehr das von Spengler verpönte 19. Jahrhundert ihm in Gestalt von Karl Vollgraf, Ernst von Lasaulx oder Jacob Burckhardt bis in zeitliche und wörtliche Details hinein allerlei Vorgaben geliefert hat.18 An anderer Stelle hat sich Spengler mit Blick auf sein eigenes Nachzüglertum bescheidener geäußert: »Es gibt keinen wirklich neuen Gedanken in einer so späten Zeit.«19

      Wichtiger ist die hegelianische Konjunktion von Nachzüglertum und Erkenntniszuwachs. Der absteigende Ast führt zu aufsteigenden Einsichten; die Eule der Minerva erkennt erst im letzten Sinkflug Dämmerung, Route und Ziel. Dieser von der Gnade der späten Geburt ermöglichte Überblick wird in dramatisch orchestrierten Passagen beschworen: »Wir, die wir noch Geschichte haben und Geschichte machen, erfahren an der äußersten Grenze der historischen Menschheit, was Geschichte ist.«20 Freilich darf Spenglers eschatophiles Pathos nicht darüber hinwegtäuschen, dass er weniger an der Beschreibung einer bislang unverstandenen Zukunft interessiert ist als an der Umschreibung einer bislang missverstandenen Gegenwart. Diese Gegenwart aber ist der Krieg.

      Bekanntlich wurde der erste Teil des Untergang des Abendlandes in Erwartung eines deutschen Sieges in Druck gegeben. Die erhaltenen Briefe Spenglers belegen zu Kriegsbeginn großen Optimismus. Alle paar Wochen wird verkündet, dass der Krieg in ein paar Wochen gewonnen sein wird. Seine Zuversicht flaut ab Mitte 1916 ab und meldet sich erst im Gefolge der Ludendorff-Offensive wieder. Das Ende sei im Sommer oder Herbst zu erwarten, heißt es im Mai 1918, dem folge dann die »Abdankung der romanischen Nationen« und die Bildung »eines deutschen Protektorat[s] über den Kontinent (bis zum Ural!)«.21

      An Spott und Skepsis fehlt es nicht. Der Großprophet kennt sich in seiner eigenen Zeit nicht aus; warum also soll man ihm trauen, wenn er extravagant über sie hinaus spekuliert? Die übliche Replik lautet, dass hier eine ungehörige Vermischung von Kurz- und Langzeitprognosen stattfinde. Es sei nicht Aufgabe der Klimaforscher, Auskunft darüber zu geben, ob es nächste Woche regnet; ob Spengler im Ganzen recht behalte, entscheide sich Mitte des 21. Jahrhunderts, nicht im Spätsommer 1918. Freilich ist das eine Scheindebatte, die am Kern der Sache vorbeigeht, denn die historische Frage, ob Deutschland den Krieg gewinnt, ist zweitrangig gegenüber der philosophischen Frage, ob Deutschland den Krieg versteht. Entscheidend ist das chiastische Verhältnis der Fragen zueinander. Die zweite, wichtigere kann nämlich nur dann so richtig positiv beantwortet werden, wenn die Antwort auf die erste Frage entsprechend negativ ausfällt. Es sind die Verlierer, die den Krieg besser verstehen – vor allem dann, wenn der sogenannte Krieg zur Beendigung aller Kriege, the war to end all wars, rückblickend zur bloßen Schlacht schrumpft, weil er sich als Oberflächenphänomen eines tiefer gelagerten, fortdauernden geschichtlichen Prozesses entpuppt. Wer aber geschlagen am Boden liegt, ist diesem Ab- und Untergründigen der Geschichte näher als ein aufrecht stolzierendes Siegerbewusstsein, das sich in der trügerischen Illusion wiegt, alles sei nach Plan abgelaufen. Wer spricht von Siegen? Verstehen ist alles. Und darin sind die Unterlegenen den Siegern überlegen.

      Der anfängliche Erfolg von Spenglers Buch beruht mithin nicht zuletzt darauf, dass es sich um ein verlockendes Kommunikationsangebot für Verlierer handelt. Kriege erzeugen naive Gewinner und sentimentalische Verlierer, denn die Niederlage zwingt diese zu Reflexionsleistungen, denen jene sich zu entziehen können glauben. Die Lektüre dient der Einübung in die raffinierte Kunst (in der der zweifach besiegte Ernst Jünger ein beachtliches Geschick entwickelte), einen Krieg besser zu verlieren, als die Gegenseite ihn gewonnen hat.

      Im deutschen Sprachraum wird dieses Besiegtentheorem oft im Anschluss an Reinhart Kosellecks Schlüsseltext Erfahrungswandel und Methodenwechsel diskutiert.22 Dieser Aufsatz hat für uns den Vorteil, dass er den Nexus von Niederlage und Erkenntniszuwachs mit dem oben angedeuteten