Spengler, so wäre angesichts dessen ohne Häme zu konstatieren, kann wohl nicht mehr als vergessen gelten, sondern ist vielmehr in jener ›Zivilisation‹ angekommen, die er selbst prognostiziert hatte. Der Zugriff auf sein Werk hat sich vom huldvollen Duktus gelöst und erweist sich auch seiner Form nach als zeitgemäß. Die »online culture wars«43 der vergangenen Jahre und der von rechts angestrebte Marsch durch die Institutionen, geschichtsphilosophisch fundierte Unternehmensberatung, subkultureller merchandise und die Anpassung an den beschleunigten Lauf der Dinge in der neuen Welt haben sich für Spengler zu einem ›Schicksal‹ gefügt, dessen Grellheit noch nicht offen zutage getreten war, als wir im Januar 2016 nach Lüneburg zu einer Tagung einluden, um die eingangs skizzierten Thesen mit Gästen unterschiedlicher Fachrichtungen zu diskutieren.44 Deutlich zeichnete sich jedoch die allgemeine reaktionäre Wende in der Politik ab, deren Zeugen wir heute sind. Patriotische Europäer marschierten in vielen deutschen Städten gegen die Islamisierung eines Abendlandes, wobei die Rede vom ›Untergang des Abendlandes‹ – der doch bei Spengler weniger als Katastrophe denn als »Vollendung«45 gedacht war – den konservativ revolutionären Sound der Zwischenkriegszeit imitierte. Die Rede vom decline of the west und Phantasmen einer unausweichlichen Bedrohung sind seither allgegenwärtig und Erzählungen von Untergang, Kampf und Rettung wieder zu harter Münze in einem politischen Geschäft geworden, das nach Entscheidern, charismatischer Herrschaft und großen Tätern giert.
Die Rede von der ›Zeitgenossenschaft Spenglers‹, die wir in kritischer Absicht auf Tendenzen der jüngeren, kulturwissenschaftlich geprägten Geistesgeschichte gemünzt hatten, bekam dadurch einen anderen Sinn als den intendierten, und es stand zu befürchten, dass unser subversives Spengler-Interesse in diesem Klima mehr und andere Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, als uns lieb gewesen wäre. Wir waren also mit einer nunmehr auch politischen Gegenwart des »Antiquariat Spengler«46 konfrontiert, die Thema unserer Diskussionen war und in zahlreichen Vorträgen adressiert wurde. Einigkeit herrschte darüber, dass diese Wiederentdeckung Spenglers außerordentlich bedeutsam sei; was uns interessierte, war im Kern jedoch etwas anderes. Es hing ein Wort des 2008 verstorbenen Historikers Heinz Dieter Kittsteiner in der Luft, bei dem einige von uns studiert und dabei wiederholt von einer verdeckten Wirkungsgeschichte Spenglers gehört hatten, in der Kittsteiner offenbar einen möglichen Schlüssel für sehr unterschiedliche Phänomene der (akademischen) Diskussionen nach 1945 und bis in die Gegenwart hinein vermutete. Das passte zu Erfahrungen, die wir gemacht hatten. Denn dort, wo kulturwissenschaftlich und stets im Plural von Kulturen gesprochen wird, scheint Spengler, einem ungeliebten und von daher ungenannten Verwandten gleich, nie ganz abwesend zu sein – zumindest für die, die sich erinnern wollen. Die Frage war also, wie eine derart ›verdeckte‹ Wirkungsgeschichte, die sich wohl nicht einfach als Rezeptionsgeschichte fassen lässt, zu modellieren wäre.
Wir hatten die Metapher Resonanzen vorgeschlagen, um einerseits die vielfältigen Phänomene auf einen Begriff zu bringen, die Spenglers Nachleben jenseits linearer Rezeptionsgeschichten bis in aktuelle Debatten hinein charakterisieren, und andererseits Spengler selbst als einen Resonanzkörper zu diskutieren, in dem der krisengeschüttelte – und in gewisser Hinsicht schon damals postmoderne – Geist des beginnenden 20. Jahrhunderts widerhallt. Für die Diskussion hat sich diese Metapher als erfreulich produktiv erwiesen. Als jedoch zwei Monate nach unserer Tagung Hartmut Rosa seinen Band Resonanz vorlegte,47 mussten wir uns eingestehen, dass die Geistesgeschichte uns überholt hatte. Das vielfältige Schwingen und Widerhallen über Raum und Zeit hinweg, das in der Metapher von der Resonanz zum Ausdruck kommt, wurde hier auf seinen Literalsinn gebracht und zur Würde eines Begriffs erhoben, der eine neue materialistische Kulturtheorie begründen sollte. Zurecht hat Christoph Görlich dieses »Überspringen der Metapher in Eigentlichkeit« dafür kritisiert, als »umfassend und primordial, ja existentiell« zu erscheinen und die Arbeit des Begriffs so stillzustellen, anstatt sie zu entbinden.48 An einer akustisch grundierten ›Soziologie der Weltbeziehung‹ jedenfalls war uns nicht gelegen; und das, was seither als ›Resonanztheorie‹ in den Kulturwissenschaften diskutiert wird, scheint uns der »eigenartige[n], vielleicht ein wenig geistige[n] Vorliebe für Musik«, die Bense Spengler attestierte, 49 näher zu stehen, als dem, was wir mit der Metapher zu leisten versuchten. Zwar operierte auch die provisorische Rede von den Resonanzen Spenglers, die wir auf die Tagungsordnung gesetzt hatten, genau wie der Resonanz-Begriff Rosas mit einem »Moment konstitutiver Unverfügbarkeit«, jedoch nicht in Bezug auf ein wie auch immer vorgängiges »In-die-Welt-Gestelltsein«,50 sondern eher im Sinn einer historiografischen Heuristik, die auf jene verdeckte und schon von daher nie ganz verfügbare Wirkungsgeschichte Spenglers zielt, von der Kittsteiner so oft gesprochen hatte, ohne seine These jemals auszuformulieren.
Es ging uns dabei, wie gesagt, nicht allein um positiv nachweisbare Rezeptionsstränge, sondern auch um die Wiederkehr des tatsächlich Vergessenen als etwas ›gänzlich Neuem‹, das Bouveresse diagnostiziert hatte, sowie die Reflexion auf einen sich wandelnden historischen Resonanzraum. Denn das, was da wiederkehrt, ist ja schon deshalb nicht einfach Dasselbe, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen zwischenzeitlich verändert haben. Diesem Umstand sollte Rechnung getragen werden, indem die Postmoderne im denkbar weitesten Sinn des Wortes als eine Epoche diskutiert werden sollte, deren historische Legitimationsnot sich symptomatisch auch daran ablesen lässt, dass sie Spengler zwar vergessen, jedoch nicht überwinden kann. Das Phänomen ›Postmoderne‹ sollte in diesem Sinne weniger von einer ihrerseits postmodernen Rhetorik des Bruchs her erschlossen, als vielmehr in der Kontinuität einer stets schon krisenhaften Spätmoderne diskutiert werden.
Spengler schien sich für ein derartiges Vorhaben in mindestens dreifacher Hinsicht anzubieten: Erstens als früher Denker einer condition postmoderne (Jean-François Lyotard). Denn insofern der Untergang des Abendlandes zwar das Ende der faustischen Moderne modelliert, aber weder das Ende der Welt noch ein Ende der Menschheit als Gattung vorsieht, hat er eine wie auch immer geartete Nachgeschichte zum Thema. Zweitens ist Spengler als Krisensymptom und -diagnostiker einer Moderne von Interesse, die zumindest insofern als gescheitert verstanden werden muss, als ihre konstitutiven Kategorien (Aufklärung, Fortschritt, Menschheit und Geschichte) irgendwann zwischen den Weltkriegen ihre Plausibilität eingebüßt haben, das Ende der Geschichte aber nach wie vor unabsehbar bleibt. Spengler fungiert hier in mehr als einer Hinsicht als Schwellenphänomen, denn sein Werk ist dem bürgerlichen Pathos der Prognose zwar noch verpflichtet, hat das geschichtsphilosophische Axiom, nach dem es in der Geschichte endlich einmal vernünftig zugegangen sein wird, jedoch schon verabschiedet. Und drittens trägt Spenglers »abgeschiedenes geisterhaftes Nachleben« in der Postmoderne Züge jener »Blindgänger der Moderne«, von denen Gert Mattenklott schrieb, ihre »eingebildete oder tatsächliche Brisanz« wirke als »ein ungewisses, verunsicherndes Potential, mit dem man rechnen muss, ohne es zu können, eine zuverlässige Abweichung, in Größenordnung und Effekt unkalkulierbar.« Gerade darin aber liege das »Geheimnis ihrer Wirksamkeit« und »es könnte«, so Mattenklott, »sein, daß man sehr wenig davon halten würde, wenn man mehr darüber wüßte.«51 Im glatten Gegensatz zu einem ›Vergessenwerden‹ mit ungewissen Folgen, könnte der Versuch, Spenglers Nachleben zu thematisieren demnach auch bedeuten, den Blindgänger, den er hinterlassen hat, zu entschärfen.
Die folgenden Beiträge sind mit einer Ausnahme im Zusammenhang unserer Tagung entstanden und wollen Spengler im Sinne Adornos standhalten.52 Sie sind einem Pathos des Durcharbeitens verpflichtet,