An dieser Stelle müssen wir nachhaken, denn hier kommen folgenreiche Ängste des 19. Jahrhunderts zur Sprache. Immer wieder findet sich bei Spengler die Vorstellung, dass Geschichte ihre Energie aus dem Abarbeiten von Differenzen bezieht. Gibt es keine solche Differenzen, Gefälle oder Spannungen mehr, fehlt es der Geschichte am nötigen Treibsto ff. Das ist der thermodynamisch inspirierte Hintergrund der oben erwähnten Kommunikationsskepsis. Entspannung, Annäherung, gegenseitige Durchdringung und Angleichung, die gleichmäßige Verteilung von Informationen über vormals getrennte Systeme hinweg, also alles, was in der Hoffnung auf Frieden und Verständigung positiv bewertet wird, erscheint als entropisches Endzeitsymptom. Wo endet die vom Konflikt der Schulen und Orthodoxien vorangetriebene Philosophie? In Spenglers Morphologie. Und was ist das Endstadium dieser Morphologie? »[D]ie Auflösung des gesamten Wissens in ein ungeheures System morphologischer Verwandtschaften«,6 also eine aus kulturellen Endmoränen zusammengesetzte enzyklopädische Klaviatur, die an Hermann Hesses Glasperlenspiel erinnert. Gleiches geschieht auf politischer Ebene, wenn Völker und Nationen – vormals die »Kampfeinheiten im Strom der Geschichte«7 – in einem planetarischen Brei bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verschmelzen. Was Spengler über das Ende der apollinischen Antike schreibt, trifft auch auf unseren bevorstehenden abendländischen Abgang oder Abgesang zu:
In der römischen Kaiserzeit beginnt man sich allenthalben zu verstehen, aber eben deshalb gibt es nichts mehr, was in antiken Städten zu verstehen sich noch lohnte. Mit dem Sichverstehen-können hatte diese Menschheit aufgehört, in Nationen zu leben; damit hat sie aufgehört, historisch zu sein.8
Wenn alle miteinander reden können, hat man sich nichts mehr zu sagen. Die Wut des Verstehens erschafft eine Öde allgemeiner Verständigung. Freilich waren die »dummen Römer« – eine vom späten Kittler häufig benutzte Formel, die ihre Herkunft aus einem bekannten gallischen Dorf wohl kaum verleugnen kann – nicht in der Lage, ihr Abgleiten in die Geschichtslosigkeit zu verstehen, weil sie im Gegensatz zu uns Abendländern erst gar nicht dazu befähigt waren, ihre eigene Geschichtlichkeit zu erfassen.
Eben dieses Muster prägt bei Kittler die historischen Medienverhältnisse. Über allen Hardwarefetischismus hinaus war seine Medientheorie, wie die von Harold Innis, eine historisch organisierte Intermedialitätstheorie. Was ein Medium ist, was es leistet und bewirkt, kann letztlich immer nur in Bezug auf andere Medien bestimmt werden. Nur so kann erklärt werden, warum bei Kittler, als sei’s ein Stück von Walter Benjamin, ein neues Medium als technische Realisierung der von alten Medien geweckten Bedürfnisse erscheinen kann. Vor allem lassen sich nur so (und wiederum ganz wie bei Innis) die strategischen, wenn nicht gar martialischen Eskalationen erfassen, in der Medien einander zu übertrumpfen suchen, bis alle Differenzen in der Digitalität aufgehoben werden. Ab dem Zeitpunkt gibt es ja bei Kittler keine Medien mehr, so wie es bei Spengler im Zeitalter der abschließenden Morphologie keine autonomen Wissensformen mehr gibt:
In der allgemeinen Digitalisierung von Nachrichten und Kanälen verschwinden die Unterschiede zwischen einzelnen Medien. Nur noch als Oberflächeneffekt, wie er unterm schönen Namen Interface bei Konsumenten ankommt, gibt es noch Ton und Bild, Stimme und Text. […] – ein totaler Medienverbund auf Digitalbasis wird den Begriff Medium selbst kassieren.9
Was Marshall McLuhan als Erweiterungen der menschlichen Sinne pries, schrumpft bei Kittler zu Zugeständnissen an deren Inferiorität. Im digitalen Zeitalter gleichen die ›Medien‹ – je mehr Kittler man liest, desto nötiger werden die Anführungszeichen – heruntergekommenen Ex-Aristokraten, die sich auf ihren ehemaligen Landschlössern als Pförtner verdingen, um Besuchern den Zugang zur neuen digitalen Herrschaft zu erleichtern. Entscheidend ist, dass genau wie bei Spengler Entdifferenzierung an Enthistorisierung gekoppelt ist. Das Medienzeitalter, so die einschlägigen Formulierungen in Grammophon Film Typewriter, steht im Gegensatz zur der »Geschichte, die es beendet«10. Am nachgeschichtlichen Horizont – Wolfgang Ernst weist immer wieder darauf hin – wuchern die zeitkritischen Rekursionen und Verarbeitungsprozesse des digitalen Glasperlengestells: »Medien kreuzen einander in einer Zeit, die keine Geschichte mehr ist«11.
Es geht also nicht, um diesen Punkt noch einmal zu betonen, um die melodramatische Hanno-Buddenbrook-Geste, dass nach mir niemand mehr kommt und ich daher einen Schlussstrich unter die eigene Familien- oder Weltchronik ziehen kann – wenn auch Spengler in seinen privaten Aufzeichnungen genau diesen Gestus vollzieht.12 Es geht um den sehr viel bedenklicheren Umstand, dass nach mir niemand mehr kommt, der zu begreifen imstande wäre, was so ein Schlussstrich überhaupt bedeutet. In Odo Marquards tautologischem Kompositastil gesprochen, betreiben Spengler und Kittler Periodisierungsperiodisierungen. Es gibt eine Zeitspanne, die sich in Kulturstadien oder Episteme unterteilen lässt, doch ihr folgt etwas, das solchen Periodisierungen keinen Halt bietet. Es geht nicht um das Ende von history oder Geschichte, sondern um das Verenden (der Heidegger der Schwarzen Hefte würde hier von »Verwüstung« sprechen) von historiability oder Geschichtsbarkeit. Wir kommen im nächsten Abschnitt darauf zurück: ›Geschichtsbarkeit‹ ist die (nach Meinung mancher: kriegserzeugte) Verknüpfung von Erfahrbarkeit und Erzählbarkeit, aus der das historische Bewusstsein überhaupt erst hervorgehen kann. Genau das – so die melancholische These – geht dieser Tage zu Ende. Auf der Weltbühne wird nichts mehr aufgeführt, was das hoffnungslos verdummte Publikum als Geschichte begreifen könnte. History has left the building.
Und weiter. Beide flirten (17.) zuweilen mit einem martialischen Apriori. Kittlers mittlere, voraphroditische Schriften kreisen um die Bedingungen, die der (Medien-)Geschichte vom Krieg, dem Vater aller technischen Dinge, aufgezwungen werden. Es gibt hier markante Unterschiede, doch eine Parallele liegt auf der Hand: Der martialische Fokus hängt (18.) mit der Rolle der Weltkriege in den Biografien beider Theoretiker zusammen – dazu gleich mehr. Weiterhin findet sich bei beiden (19.) eine gleichermaßen ehrgeizige wie unabgeschlossene Alterserweiterung der Theorie in die Ur- und Frühgeschichte, die (20.) mit dem Anspruch auftritt, dort vieles entdeckt zu haben, was das Fassungsvermögen der zuständigen Experten übersteigt. Diese Erweiterung ist (21.) mit einer Tendenz zur Operationalisierung verknüpft. Wenn Spengler in den Fragmenten zur Frühzeit der Weltgeschichte die Religion nicht als »Glaube« oder »Theorie« versteht, sondern als Handlungs- und Technikengeflecht; wenn er betont, dass hinter dem oberflächlichen Gerede vom »Schiffbau« ein »ganzer Komplex von Erfindungen« einschließlich »Boot, Ruder, Anlegeplatz« steckt; und wenn er fordert, irreführende Großbegriffe wie »Viehzucht« zu streichen oder eine grobe, stoffbasierte Epochenbezeichnungen wie »Steinzeit« durch eine technikbasierte Sequenz aus »Schlag-, Hammer- und Schmiedezeit«13 zu ersetzen – dann ähnelt das der kulturtechnischen Wende in Kittlers Spätwerk, die erstarrte ontologische Begrifflichkeiten in beweglichere ontische Ensembles aufzulösen sucht. Beider Kulturkritik durchläuft zwei Phasen: eine erste, in der sie ihren Mitmenschen vorwerfen, nicht zu wissen, in welchem geschichtlichen oder epistemologischen Wald sie sich gerade befinden, und eine zweite, in der Leuten nicht minder vorwurfsvoll beschieden wird, dass sie vor lauter Wald die einzelnen Bäume nicht sehen. Wobei zu fragen wäre, ob sich wie bei Kittler diese Tendenz auch im Falle Spenglers einer Selbstanwendung der eigenen