Bis sie das Haus des Mannes erreichten, versuchte dieser ihn mit allen Mitteln zu überreden, zu seiner Familie zurückzukehren.
Naid war fassungslos. Was für ein Zufall!“ Ausgerechnet in einem menschenleeren Industriegebiet hatte er einen Typen aufgegabelt, der ein Freund von Nachme war … Das hier war eine Millionenstadt, und er bewegte sich in einem völlig anderen Stadtteil als seine Familie.
Solche und ähnliche „Zufallsbegegnungen“ ergaben sich in der Folgezeit immer wieder. An den kuriosesten Orten traf er Menschen, die in irgendeiner Weise mit seiner Familie, der Kirche oder mit Christen in Kontakt standen. Das häufte sich so sehr, dass selbst Naid das nicht mehr als Zufall abtun konnte.
Wann immer ihm zu Ohren kam, sein Vater würde ihm gerne helfen, verschloss er sich dem rigoros. Er würde das alleine schaffen. Seinen Vater brauchte er dazu auf keinen Fall. Doch Woche um Woche verging, ohne dass er einen gangbaren Weg für sein Leben vor sich sah.
Wenn er sich einsam fühlte, ging er manchmal in einen Park. Dort gab es mosaiküberdachte Grotten und mit Blumenbeeten eingesäumte Teichanlagen. Dort legte er sich auch heute wieder ins Gras und schloss die Augen.
Täuschte er sich oder kannte er die Stimme?
Zwei junge Frauen saßen ganz in der Nähe auf einer Bank, lachend und plaudernd. Als sich die eine Frau erhob und von ihrer Freundin verabschiedete, sprach Naid sie an. Wie sich herausstellte, war sie die Adoptivtochter seiner Mutter. Seit Monaten lebte sie bei seinen Eltern. Damals, als seine Mutter davon gesprochen hatte, Cassy zu adoptieren, war er völlig ausgeflippt. Es war eine von Mutters unmöglichen Ideen gewesen, die zu einem heftigen Streit geführt hatten.
Jetzt fand er Cassandra ganz sympathisch und lud sie kurzerhand in ein Straßencafé ein. Wenn man ihn gefragt hätte, hätte er etwas widerwillig zugegeben, dass er geschockt war, in dieser Millionenstadt schon wieder jemanden zu treffen, der in Beziehung mit seiner Familie stand.
Bei einer Tasse Cappuccino versuchte seine Stiefschwester ihr Bestes, ihn zu überreden, nach Hause zurückzukommen. „Mutter wird dir alles vergeben. So wie Jesus ihr vergeben hat.“
„Jesus, Jesus! Ihr könnt von nichts anderem reden! Lass mich in Ruhe mit ihm!“
„Aber Jesus liebt dich! Du musst ihn unbedingt kennenlernen!“
„Wenn dieser Jesus lebendig ist, so wie ihr das alle behauptet, dann möchte ich ihn mit meinen eigenen Augen sehen.“
Statt weiter zu diskutieren, stand Cassandra auf und verabschiedete sich von ihm. „Ist in Ordnung, Naid. Ich werde es ihm sagen.“
Sprach’s und verschwand. Sie wollte es ihm sagen? Naid sah ihr kopfschüttelnd nach und ging zu seinem Auto zurück.
Maraya muss sich fest gegen die schwere Tür der Kirche lehnen, um sie aufzudrücken. Hoffentlich werde ich es nicht bereuen. Aber ich muss mir unbedingt mein eigenes Bild machen. Mal sehen, wer recht hat und ob die Christen tatsächlich so verrückt sind, wie alle behaupten. Sie sollen ja sagen, dass Gott unser Vater ist.
Maraya schiebt sich in den voll besetzten Raum und findet in der vorletzten Reihe einen Platz. Sie nimmt mit dem Betreten des Gotteshauses sofort eine intensive Gegenwart wahr. Die Menschen stehen auf und beginnen, Gott zu loben und anzubeten.
Ist es die Musik? Maraya beginnt zu zittern. Sie ist ergriffen und begreift nicht warum. Beruhigend legen die Frauen neben ihr Maraya die Hände auf den Rücken, aber das Zittern hört einfach nicht auf. Einerseits wünscht sie sich, nie wieder hier weggehen zu müssen, und gleichzeitig möchte sie so schnell wie möglich verschwinden. Ich gehöre nicht hierher, alle um mich herum sind so heilig.
Kaum hat sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, hörte sie den Pastor von der Kanzel sagen: „Niemand hier ist besser als die anderen, niemand ist von sich aus heilig. Heilig und rein sind wir nur durch Jesus Christus.“
„Halleluja!“
Halleluja? Was für ein seltsames Wort! Was bedeutet es?
Als hätte der Prediger ihre stille Frage gehört, beantwortet er sie: „Halleluja bedeutet: Lobet den Herrn! Mit diesen Worten ehren wir unseren Gott!“
Woher weiß er, was sie denkt? Nur Gott kennt die Gedanken der Menschen. Er muss hier sein! Nie zuvor hat sie solch einen Gott gesehen!
Als der Gottesdienst zu Ende ist, wird Maraya beinahe panisch. Ich darf ihn nicht verpassen! Ohne ihn will ich nicht mehr sein, ich brauche ihn!
Sie folgt der von vorne ausgesprochenen Einladung. Ja, sie will Jesus unbedingt besser kennenlernen! Eine Frau nimmt sie verstehend in ihre Arme.
„Ich will Christus haben, was muss ich tun?“
Wie eine funkelnde Perlenkette lagen die Lichter der Landebahn vor ihm. Ein Jumbojet schwebte dröhnend über Naids Kopf. Er hoffte, ganz in der Nähe des Flughafens ungestört parken und schlafen zu können. Käme die Polizei, würde sie glauben, er sei ein Reisender, der sich noch ein paar Stunden Schlaf vor dem Abflug am Morgen gönnte. Sechs Monate schlafen, essen und leben in einem Auto, hatten ihn zu einem Profi in solchen Dingen werden lassen. Während er nach einer unauffälligen Parklücke Ausschau hielt, hing er seinen Gedanken nach. Wie können die Christen an einen Gott glauben, den sie noch nie gesehen haben? Die sind doch bescheuert!
„Aber wenn es dich gibt, Gott, dann will ich dich sehen. Und wenn es dich nicht gibt, dann lass mich endlich in Ruhe.“
Er sprach es laut in die Einsamkeit hinein. Es hörte ja doch keiner zu.
Naid liegt zusammengekrümmt auf dem Rücksitz, er schläft tief. Es ist ungefähr zwei oder drei Uhr nachts. Urplötzlich beginnt sein Wagen heftig zu schaukeln. Verwirrt fährt sich Naid durch sein Haar und rappelt sich auf. Warum wackelt das so? Er hat doch nicht an einer Schnellstraße geparkt, an der manche in halsbrecherischem Tempo vorbeirasen und damit eine Druckwelle auslösen, die die Autos erschüttert!
Die Scheinwerfer eines Flugzeuges leuchten über ihm auf, es ist dabei zu landen. Naid späht suchend aus dem Fenster. Das Schaukeln hört einfach nicht auf. Da entdeckt er ihn. Er sitzt auf der Motorhaube.
Fest sehen sie sich in die Augen, es sind nur wenige Sekunden und doch eine Ewigkeit. Naid reißt seine Hände hoch. Heftig stößt er sie an das Innendach. „Autsch.“
Wo ist das Handy hingekommen? Er muss Cassy anrufen, sonst wird er später glauben, er sei verrückt geworden. Hellwach wühlt er in den Decken, hoffentlich hat er noch Guthaben!
„Cassy! Er hat mich aufgeweckt!“
„Bist du das, Naid? Was ist los? Bist du betrunken?“
„Ich bin vollkommen nüchtern, ich habe nichts getrunken. ER, Jesus Christus, hat mich besucht! Ich weiß es ganz, ganz sicher! Er war es. Mein Schöpfer saß auf der Motorhaube meines Autos und hat so lange daran gerüttelt, bis ich aufgewacht bin!“
„Hat er etwas zu dir gesagt? Woher weißt du, dass er es war?“
Cassandra ist nun ebenfalls hellwach.
„Du kannst es mir glauben! Meine Seele hat ihren Schöpfer getroffen, ich weiß es einfach! Er war es. Er hat mich gefragt: ‚Junge, ist das hier dein Platz?‘ Cassandra, ich komme nach Hause.“
Seine Schwester lacht. Sie glaubt ihm jedes Wort. Was er ihr erzählte, schien sie nicht einmal sonderlich zu wundern.
Drei Tage später hatte Naid alles wieder zurück, was er verloren hatte. Sein Vater beglich seine Schulden und verpflichtete ihn, einen finanziellen Berater einzustellen. Er zog wieder zurück in seine Wohnung und überdachte sein Leben neu.
Er las die Bibel und fing an, Gottesdienste zu besuchen. Niki gefiel das alles gar nicht. Sie war tief verletzt, er hatte sich all die Monate nicht bei ihr gemeldet. Naid hatte sich geschämt und sich von ihr ferngehalten, solange er ihr kein angemessenes Leben bieten konnte. Ihre