Eine hexenartige Frau ergriff seine sechs Pence mit einer „grauen Klaue“ und führte ihn die wackeligen, wurmzerfressenen Stufen hinauf …
Der junge Mann fand sich schließlich in einem riesigen Raum wieder, der von tiefschwarzen Kerzen erleuchtet wurde. Höhnisch grinsende, verunglückte Formen kreisten ihn ein und warfen kreuzartig verschränkte Schatten auf den Fußboden. Es sah aus wie das Gemälde eines dekadenten Genies. Warten sie nur auf ein Signal von ihrem Meister, dem Teufel, um von ihren hölzernen Podesten hinunterzusteigen und sich in einer höllischen Saturnale zu ergehen? Durch diese Atmosphäre verängstigt, versuchte der Mann zu fliehen, doch er sah, dass er eingeschlossen war. Irgendwo schlug eine Uhr Mitternacht und eine leise, klar zu vernehmende Musik drang in den Raum hinein. Sie wurde von den Flöten eines wächsernen Satyrs erzeugt. Carls Geist rotierte in einer Ekstase des Grauens. Die Teile der Wachsfiguren stiegen von ihren Podesten hinunter … das Licht erlosch …
Am darauffolgenden Morgen vernahmen zwei Polizisten einen gellenden Schrei. Als sie das leere, verlassene alte Haus betraten, in dem sich einst ein Wachsfigurenkabinett befand, fanden sie die kläglichen Überreste von etwas, das einmal ein junger Mann gewesen war … seine Augen waren die eines Menschen, der Dinge gesehen hatte, die Sterbliche nicht sehen sollten.8
Nachdem Frank Marien Nortons erste Geschichte erhalten hatte, bat er sie um eine weitere Kurzgeschichte, und sie schickte ihm ein Stück mit dem Titel Das Gemalte Grauen, eine Geschichte, die noch verstörender war als die erste. Sie handelte von einem jungen Künstler, der beim Malen in seinem Atelier bemerkte, wie seine Hand auf geheimnisvolle Weise dazu gebracht wurde, eine „gigantische, ekelerregende Masse rosafarbenen, aufgedunsenen Fleisches“ zu malen, „die aussah, als ob sie aus einem Meer des Verfalls aufgestiegen sei und von einem untersetzten, grinsenden, halbmenschlichen Kopf mit großen, dicken und blutbesudelten Fingern, die sich wie Würmer wanden, überragt wurde … Dieser riesige Körper kauerte auf der Leinwand und war scheinbar jederzeit dazu bereit, den Betrachter anzuspringen.“9 Diese mysteriöse Macht in der Geschichte ernährte sich so lange vom Geist und der Seele des Künstlers, bis dieser eines Morgensauf dem Fußboden seines Ateliers vorgefunden wurde, „in Fetzen gerissen und aufgefressen.“ Ein Polizist, der diesen bizarren Todesfall nicht aufklären konnte, merkte an: „Merkwürdiger Weise wies eine große Leinwand in seinem Atelier ein großes Loch auf, ganz so als wäre irgendetwas aus ihr heraus oder durch sie hindurch gesprungen.“10
Marien war von diesen Geschichten aus der Feder eines fünfzehnjährigen Mädchens so beeindruckt, dass er noch eine weitere Geschichte von ihr zur Veröffentlichung anforderte. Nortons dritte Zusendung trug den Titel Mond-Wahnsinn und handelte von einem Mädchen, das unter dem Einfluss des Vollmondes in einem Obstgarten seine Schwestern einer Marmorstatue, die einen Jüngling darstellt, opfert. Der folgende Auszug steht stellvertretend für die ganze Geschichte:
Plötzlich war da Corinnes gellender Schrei, als Viviennes Zähne in ihre Halsschlagader eindrangen. Ein Schrei, kurz und grauenerregend, als würde er von einem gefangenen Kaninchen kommen – doch es war niemand da, der ihn hören konnte … nur die dünnen, gemeißelten Lippen des Jünglings schienen zu lächeln, als das warme Blut des Opfers über seine Füße lief.11
Marien war beeindruckt von Nortons imaginativen, wenn auch gruseligen Fähigkeiten als Autorin und entschied sich, ihr eine Stelle als Jungjournalistin anzubieten, obwohl ihm gleichzeitig bewusst war, dass es nötig sein würde, die kreativen Energien der Schreiberin in eine Form zu bringen, die für die Leser verdaulicher war. Bald darauf jedoch bestand Norton darauf, als Graphikkünstlerin und nicht als Journalistin angestellt zu werden. Marien war sich ihrer künstlerischen Talente nicht sicher und machte ihr klar, dass die Zeichnungen, die der Smith’s Weekly abdruckte, humorvoll und geistreich waren und das Hauptanliegen darin bestand, die Leser zum Lachen zu bringen. Norton versicherte ihm, dass sie in der Lage dazu wäre, Illustrationen im angemessenen Stil zu produzieren.12
Leider erwiesen sich die ersten Zeichnungen, die Norton für den Smith’s Weekly anfertigte, als kommerziell inakzeptabel. Die erste Komposition, die sie Marien anbot, zeigte eine Anzahl von Frauen, die auf einer Art Gras im Kreis saßen und sich darüber amüsierten, wie sie ihre Neugeborenen bissen. Auf einer anderen, mit einem Kommentar versehenen Zeichnung sah man zwei Mädchen vor einem Tigerkäfig im Zoo stehen. Eines der Mädchen schaute zu dem Zoowärter hinüber und bemerkte gegenüber ihrer Freundin: „Wäre das nicht ein Spaß, wenn die Tiere ihn auffressen würden!“
In den darauffolgenden Monaten bat Marien Norton, ihre Werke in einem für die Allgemeinheit zugänglicheren Stil anzufertigen. Doch Norton war nicht in der Lage, die Art von Illustrationen zu produzieren, die von der Leserschaft des Smith’s Weekly angenommen wurden. Nach acht Monaten verließ sie den Smith’s Weekly, und sie konnte von da ab malen und zeichnen, wie es ihr beliebte.
Das Leben nach dem Smith’s Weekly
Norton entschied sich, nicht nur eine für ihre Kunst günstigere Umgebung als den Smith’s Weekly zu finden, sondern auch ihre Familie in Lindfield zu verlassen. Nortons Mutter war kurz zuvor gestorben und nun gab es keinen emotionalen Druck mehr für die Tochter, zuhause zu bleiben. Sie hinterließ ihrem Vater und ihren Schwestern eine handgeschriebene Notiz auf dem Kaminsims, packte ihre Sachen zusammen und ging zum Bahnhof, der ganz in der Nähe des Hauses lag. Doch ihr wurde schnell klar, dass sie ihre Abreise nicht richtig geplant hatte:
Die einzige Sache, die ich übersehen hatte, war Geld. Am Bahnhof wurde mir klar, dass ich nicht einen Penny bei mir hatte. Und ich konnte mit zwei schweren Koffern nicht in die Stadt laufen, so borgte ich mir zwei Schilling von dem hiesigen Bibliothekar. Das brachte mich triumphierend mit dem nächsten Zug in die Stadt.15
In der Stadt angekommen trat sie sofort mit mehreren Kunstateliers in Kontakt, da sie Arbeit als Künstlermodel suchte. Nach Aussage von Cecily Boothman, Nortons älterer Schwester, stand sie auch mehrere Male für Norman Lindsay Modell, als sie ihn zuhause und in seinem Atelier bei Springwood in den Blauen Bergen westlich von Sydney besuchte, wo sie ihm auch einige ihrer Zeichnungen zeigte. Lindsay hielt Nortons übernatürliche Kunst für roh und eindimensional, doch zweifelsohne hatte er auf ihren Stil einigen Einfluss. In den frühen 1950er Jahren wurde Norton für genau denselben bacchanalischen Kunststil – heidnische Feste, herumtollende unbekleidete Frauen und Satyrn – bekannt, der Norman Lindsays frühe Strichzeichnungen zu einem so kontroversen Gegenstand werden ließ. In den 1930er Jahren hingegen war Norton noch dabei, die rudimentären Grundlagen ihres künstlerischen Stils zu formulieren und entwickelte in dieser Zeit ihre eigene, einzigartige Bandbreite albtraumhafter Bildwelten. Dennoch war sie auch häufig als Model angestellt:
Man hielt mich für ein gutes Model; nicht wegen meiner Kurven, deren Nichtvorhandensein ihren eigentlichen Reiz ausmachte; da ich aber selbst Künstler war, wusste ich, welche Posen sich am besten zeichnen ließen. Es gab viel zu tun, vieles lag vor mir. Als ich meinen gegenwärtigen Freund kennen lernte, erfuhr ich, dass auch er seine Arbeit verloren hatte; dennoch aber war genug Geld da, um in einem der märchenhaften alten Gebäude in der Gloucester Street – dem früheren „Ship and Mermaid Inn“, dem ersten Pub in Sydney, – ein Zimmer (damals acht Schilling) anzumieten. Später wurde dieser Pub ein Treffpunkt für Künstler, Musiker und Alkoholiker.14
Das „Ship and Mermaid Inn“, das im Jahre 1841 gebaut wurde, lag genau gegenüber dem Circular Quay von Sydney. Es war in der Zeit, als sie dort wohnte, da Norton anfing, esoterische Literatur zu lesen, unter anderem auch Werke zur mystischen Kabbala, zu vergleichenden Religionswissenschaften und mittelalterlicher Dämonologie. Damals begann sie auch ihr Interesse an dem griechischen Gott Pan zu entwickeln. Während ihres Aufenthaltes im „Ship and Mermaid Inn“ nahm sie verschiedene Teilzeit-Arbeiten an und war zeitweilig