Norton wurde in der Boulevardpresse einheitlich als eine „heidnische Rebellin“ dargestellt und mit unwürdigen Bezeichnungen wie z. B. „notorische, Pan verehrende Hexe von Kings Cross […] eine Person, die der Polizei durch zwei Verfahren wegen Obszönitäten bekannt geworden ist„1 belegt.
Die Berichterstattung in den meisten großen Printmedien Australiens wurde durch weit verbreitete Tratsch-Magazine wie The Australasian Post, People, Truth and Squire, die überwiegend sensationslüsterne Artikel veröffentlichten, sowie Boulevardblätter wie The Daily Telegraph, The Daily Mirror und Sun in Gang gesetzt. Doch das gesamte anzügliche Medieninteresse an Nortons Person muss in einem historischen Kontext gesehen werden. In der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war Australien ein sowohl in sozialer, als auch politischer Hinsicht konservatives Land, regiert von dem äußerst traditionsbewussten Premierminister Sir Robert Menzies, der eine strenge Position gegenüber der Zensur vertrat. Norton wurde in der Boulevardpresse als eine teufelsanbetende Hyäne dargestellt, die es darauf abgesehen hatte, allgemein akzeptierte soziale Konventionen vorzuführen; und zwar in einer Zeit, da der angemessene Platz einer Frau am Herd war und diese sich um die häuslichen Belange sowie die Nöte des Ehemannes und der Kinder zu kümmern hatte. In den 1960er Jahren begann Australien aufgrund des sich verstärkenden Zuzugs von Migranten aus vielen europäischen und asiatischen Ländern langsam zu einer echten multikulturellen Gesellschaft zu werden, in der sich viele unterschiedliche religiöse Glaubensrichtungen ansiedelten.2 Doch lange bis in die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hinein war Australien noch ein konventionell christliches Land. Über 80 % der Gesamtbevölkerung war dabei anglikanisch, presbyterianisch, methodistisch oder Römisch-Katholisch.
Da die Hexerei lange an die mittelalterliche und frühneuzeitliche Dämonologie westlich-christlicher Ausprägung3 angebunden war, überrascht es kaum, dass Norton in den meisten Pressedarstellungen der 1950er und 1960er Jahre als eine „Abtrünnige“ der Mainstream-Gesellschaft, als antichristliche Teufelsanbeterin und „schwarzmagische“ Praktikerin dargestellt wurde. Diese öffentliche Wahrnehmung ihrer Person jedoch war verzerrt und vollkommen ignorant. Tatsächlich war Norton eine Pantheistin und praktizierende Hexe, die einer Reihe uralter heidnischer Gottheiten huldigte, welche mit den Urkräften der Natur und der Unterwelt in Verbindung standen. Zu Letzteren gehörten auch Pan und Hekate, denen Norton ihre rituellen Altäre weihte. Sie beschäftigte sich auch mit Sexualmagie und verfolgte dabei verschiedene Formen ritueller Praxis, die teilweise von Aleister Crowleys okkulten Lehren beeinflusst waren. Und obwohl die australische Boulevardpresse Norton als eine Teufelsanbeterin bezeichnete, glaube ich nicht, dass sie eine praktizierende Satanistin im wörtlichen Sinne gewesen war. Meine Gründe dafür werde ich später im Verlaufe dieses Buches darlegen. Dennoch war Norton sehr der Nachtseite der Magie zugewandt und ihre okkulte Bilderwelt, die sie als visionäre Künstlerin erschuf, ist mit den Qliphoth oder den dunklen Energien des Kabbalistischen Lebensbaumes verknüpft – ein zentrales Motiv in der Magie von heute. Ihre esoterischen Ansichten, ihre Kosmologie und die visionäre Kunst sind miteinander verwoben – und reflektieren ihren einzigartigen Ansatz, das magische Universum zu verstehen.
Einen besonderen Aspekt ihres Lebens, welchen die Leser der in den 1950er Jahren in Sydney verlegten Boulevardmagazine wahrnahmen, stellte die Tatsache dar, dass Norton von Natur aus eine Trance-Künstlerin war. Im Jahre 1940, im Alter von 23 begann sie mit Selbsthypnose zu experimentieren; und als Ergebnis ihrer visionären Entdeckungsreisen durch Trance-Zustände fing sie damit an, in ihren Gemälden und Zeichnungen eine große Anzahl verschiedener übernatürlicher Lebewesen darzustellen. Norton glaubte, dass der große Gott Pan, die Hauptgottheit in ihrem persönlichen, magischen Pantheon, nicht nur einfach eine Gestalt aus der alten griechischen Mythologie, sondern eine als Schwingung existente, lebendige und archetypische „Gegenwart“ in dieser Welt sei. Indem sie dem Gott Pan in Ritualen huldigte, wollte sie sich zur Erde als geheiligter, lebendiger Organismus in Beziehung zu setzen. In diesem Sinne kann sie als eine bedeutsame Vorläuferin jener Bewegungen verstanden werden, die sich der Umwelt verschrieben, die Spiritualität der Göttin verehren und seit den späten 1970er Jahren die Notwendigkeit zur „Re-Sakralisierung“ der Erde befürworten. Auch diese Aspekte ihrer magischen Philosophie muss eine ausgeglichene Bewertung von Nortons Person notwendigerweise umfassen.
Ich traf Rosaleen Norton nur einmal – wir hatten im Jahre 1977 ein längeres Gespräch in ihrem Apartment in Kings Cross. Zu dieser Zeit wurde sie von den meisten Leuten nur „Roie“ genannt; und die Roie, an die ich mir erinnere, war schlank, hatte dunkles, eher ungepflegtes, lockiges Haar, schnell aufblitzende Augen und geheimnisvoll gebogene Augenbrauen. Während der 1950er Jahre trug Norton farbenfrohe Blusen, paffte Zigaretten mit einem gravierten Mundstück und gab manchmal, spärlich bekleidet mit ritueller Garderobe, Presseinterviews. Als ich sie traf, lebte sie jedoch schon sehr abgeschieden und war keine öffentliche Person mehr. Über viele Jahre hinweg suchte sie nach einem Weg, dem Blick der Öffentlichkeit zu entfliehen und hatte sich sehr weit in ihre eigene, private Welt zurückgezogen.
Wie bereits erwähnt, machte Norton zu einer Zeit auf sich aufmerksam, da eine prüde und puritanische Mentalität in Australien vorherrschend und die Mainstream-Gesellschaft keineswegs derart kulturell vielfältig und tolerant war wie heute. Die australische Öffentlichkeit der 1950er Jahre war über Nortons gewagte Gemälde und Zeichnungen erstaunt, in denen sie nackte Hermaphroditen, Phalli, die sich in Schlangen verwandeln, und leidenschaftliche Begegnungen mit schwarzen Panthern darstellte. Während Norman Lindsays freizügige Kunst auf halbem Wege dazu war anerkannt zu werden – eine Art verhaltener Voyeurismus machte es möglich, die nackten, umher tollenden Gestalten, die in seinen Gemälden und Zeichnungen gezeigt wurden, als „Kunst“ zu bezeichnen – war es für Norton keinesfalls leicht, diese Akzeptanz zu finden. Wie sie es selbst ausdrückte, waren Lindsays Gestalten Kreaturen des Tages und besaßen frivole Frohnaturen, wogegen Nortons Kompositionen ausnahmslos auf die Gestalten der Nacht fokussiert waren – Phantasmen aus den dunkleren Bereichen der Seele.
Norton stellte sich selbst der Öffentlichkeit ursprünglich als Trance-Künstlerin vor. Von frühem Alter an besaß sie die bemerkenswerte Gabe, die visionären Tiefen ihres Unterbewussten zu erforschen, und die archetypischen Lebewesen, die ihr dabei begegneten, wurden zum Schwerpunkt ihrer Kunst. Erst später, als sie als Hexe bezeichnet und als solche in der Boulevardpresse beschrieben wurde fing sie an, auch die Persönlichkeit auszubilden, welche dieser Beschreibung gerecht wurde. Als dieser Prozess mehr und mehr Bedeutung annahm, verstärke Norton selbst schließlich die Versuche, aller Welt zu zeigen, dass sie als Hexe geboren worden war. Denn sie hatte etwas spitze Ohren, kleine blaue Male auf ihrem linken Knie und Fleisch und Haut hingen ihr von den Achseln bis zur Hüfte hinunter – eine Variante der zusätzlichen Brustwarze, die den Hexen des Mittelalters manchmal nachgesagt wurde.
Dennoch bin ich der Ansicht, dass vieles von dem Dargestellten nur der Entwicklung ihrer eigenen Mystik zuzuschreiben ist. Seit frühester Kindheit wollte Norton anders sein. Es machte ihr Spaß, der schräge Vogel zu sein, der seine Schulkameraden provoziert. Sie stritt unablässig mit ihrer Mutter und „hasste“ Autoritätspersonen wie Schulleiterinnen, Polizisten, Politiker und Priester. Sie hatte keine Zeit, sich um institutionelle Religion zu kümmern; und die Götter, die sie verehrte – eine Ansammlung alter Gottheiten rund um Pan – waren natürlich durch und durch heidnisch. Für sie war Pan der Gott des Unendlichen Seins. Traditionell ist dieser im alten Griechenland als der Gott der Schafherden und Hirten bekannt. Er wurde in dieser Tradition als halber Mensch, halbe Ziege abgebildet, spielte auf einer Flöte, die aus sieben Holzröhren bestand und wurde dabei als der Herr der Natur und aller Formen wilden Lebens erachtet. Darüber hinaus war er ziemlich lüstern und hatte zahlreiche Liebesaffären mit den Nymphen – besonders mit Echo,