Shakespeares Sternenritt. Uta Rabenstein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uta Rabenstein
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Научная фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783946433101
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und betrachtete sich im Spiegel.

      In dem hellen Licht schimmerte seine Haut grünlich und die Lippen erschienen olivfarben. Auf seine schön geschnittenen dunklen Augen war er stolz, auch auf die schmale Nase. Nur der Mund hätte etwas härter und entschlossener wirken können.

      Unentschlossenheit war seine größte Schwäche und aus­gerechnet jetzt hätte er dringend eine Entscheidung treffen müssen. Schließlich ging es um Tod oder Leben – sein Leben. Nicht dass er feige gewesen wäre, das war nicht sein Problem. Er brauchte immer einen Anstoß von außen, einen Fingerzeig der Sterne, um sich zu entscheiden.

      Der Sinn des Daseins konnte doch nicht in seinem genau festgelegten frühzeitigen Tod liegen? Kassandras durchschnittliche Lebenserwartung lag bei fünf mal siebenundzwanzig Jahren!

      Zwischen seinen dichten Augenbrauen zeigte sich eine steile Falte und er verzog schmerzlich die Mundwinkel. In den Filmen über Kontakte mit Lebewesen anderer Planeten hatte er nur eine Art entdeckt, die der seinen ähnelte.

      Sie bewohnten den Planeten Terra und waren, verglichen mit seiner eigenen Spezies, nicht sonderlich intelligent, wenngleich sie es geschafft hatten, »den Weltraum zu erobern«, wie sie sich ausdrückten. In ihrer Sprache gab es ein Wort, das er bis heute nicht begriffen hatte: das Wort »vergessen«.

      Er vergaß nie etwas, was er gelernt oder erlebt hatte, alles blieb wie auf einer Computerfestplatte gespeichert. Nur für Gefühle war eine Löschfunktion vorhanden, die in regelmäßigen Intervallen angewendet werden musste, denn zu viele Empfindungen beeinträchtigten, wie ihm von Kindesbeinen an eingeprägt worden war, das reibungslose Funktionieren des Verstandes.

      Er fühlte sich primitiven Lebewesen, deren Hirn pausen­los mit denselben Daten gefüttert werden musste und die keinem noch so primitiven Roboter in puncto Wissensspei­cherung das Wasser reichen konnten, haushoch überlegen.

      Außerdem waren die Terrestrier sehr schwach: Ihre Arme und Beine waren extrem unterentwickelt, und nur sehr wenige konnten problemlos kurze Strecken in einer Art Zeitlu­pentempo zurücklegen, was sie als Marathonlauf bezeichneten.

      Seltsamerweise waren die männlichen Terrestrier sehr stolz auf ihr Fortpflanzungsorgan, ein plumpes, starres Ding, das keinen schönen Anblick bot und deshalb meist unter der Kleidung versteckt wurde.

      Wenn diese bemitleidenswerten Primitivlinge ahnen würden, was er selbst sein Eigen nannte: Ein hochempfind­liches, sanft vibrierendes, schlangengleich bewegliches und an das Hohlorgan seiner Partnerin anpassungsfähiges Inseminationsorgan mit Millionen feiner Sensoren.

      Wenn die Partnerin das absolute Wohlgefühl nicht erreichte, schlug jeder Besamungsversuch fehl, aber bis jetzt hatte er es geschafft, bei nahezu jeder zunehmenden Phase des äußeren Trabanten einer neuen Brüterin den Weg zur Mutterinsel zu ebnen. Niemals hatte er eine dieser Frauen ein zweites Mal gesehen.

      Kassandra seufzte tief. Er würde sein wunderbares Kör­perteil binnen kurzem nicht mehr benötigen und niemanden mehr damit glücklich machen können.

      Voll Selbstmitleid im Zimmer herumzuhängen brachte ihn aber keinen Schritt weiter, da war es besser, einen aus­gedehnten Spaziergang durch die Straßen der Metropole zu machen.

      Er schaute aus dem rosettenartig geschwungenen Fenster hinaus auf die von Kuppelbauten gesäumte Straße. Nur wenige Gruppen in leuchtend grüngelb karierten Mänteln waren zu diesem Zeitpunkt unterwegs.

      Kassandra war Alleinsein gewöhnt und im Augenblick hätte er absolut keine plappernde Gesellschaft ertragen können. Er war ohnehin wortkarg geworden, um nicht aus Versehen zu verraten, dass er viel mehr wusste als die ande­ren Organspender. Nur sehr selten besuchte er eines der zahlreichen Starbugs-Cafés, setzte sich allein an einen Tisch, bestellte einen sprudelnden Dröhner und hörte den Gesprächen der anderen zu.

      Langsam holte er seinen schwarzen Mantel aus dem Wandfach und zog sich an. Ein plätscherndes Geräusch aus der Zimmermitte ließ ihn herumfahren.

      Der Überwachungsspringbrunnen, der seit vielen Monaten trocken gelegen hatte, sprudelte kräftig. Eine blau irisie­rende Fontäne sprang in elegantem Bogen in die Metall­schale des Brunnens.

      Kassandra brach der Schweiß aus und seine beiden Herzen begannen heftig zu schlagen. Er wusste, was ihm bevor­stand: Eine Überprüfung seiner innersten Integrität. Die Gedanken schossen Kassandra kreuz und quer durchs Ge­hirn, als die ersten Tropfen bereits aus der Schale sprangen und auf ihn zu hüpften. Er musste sofort handeln, sonst würden sie in ihn eindringen, und dann wäre er verloren. Jedes Organ würden sie inspizieren und in seine geheimsten Erinnerungen eindringen, um sie zu sezieren und alles, was ihnen verdächtig erschien, unbarmherzig herauszubrennen.

      Wenn sich diese Prozedur als zu aufwändig herausstellen würde, wäre es ein Leichtes, auf das Terminationsprogramm umzuschalten und seine Person innerhalb weniger Sekunden endgültig auszulöschen.

      In seiner Erinnerung blitzte kurz die Reihe der Skelette auf, die den Eingang zum Kriegspalast säumten: So würde auch er bald aussehen.

      Gerade noch rechtzeitig sprang er zur Seite, bevor ihn der erste Tropfen erreichte. Er spürte förmlich bereits die vielen mikroskopisch kleinen Inspektoren, die sich innerhalb der Flüssigkeit synchron fortbewegten.

      Seine Klauen zitterten, als er die halbrunde, nach außen gewölbte Fiberglastür heftig aufriss und losrannte. Die Tür zuzuschlagen hatte keinen Sinn, die Tropfen würden einfach darunter hindurchkriechen.

      Kassandra hätte vor Ungeduld am liebsten gegen die Wände getreten, als er quälend langsam den Gegenstromschacht passierte.

      Immer wieder schaute er nach oben in Erwartung herunter trudelnder blauer Tropfen. Er hatte Glück: Gerade als die ersten Tropfen über ihm auftauchten, war er endlich unten angelangt.

      Auf der Straße wehte ein warmer Wind, der den gewohnten Staub mit sich trug, und drang in jede Körperöffnung.

      Kassandra fischte hastig sein Tuch aus der Manteltasche und band es um Mund und Nase. Die Augen konnte er mit einer zusätzlichen Nickhaut schützen, die zuverlässig seine empfindlichen Pupillen bedeckte.

      Um nicht aufzufallen, zwang er sich, betont langsam eine der Hauptstraßen mit den langen, braunen Wohnsilos entlangzuschlendern. Seine beiden Herzen hämmerten dröh­nend im schmerzenden Brustkorb, und in seinem Gehirn schien es nur Kurzschlüsse zu geben. Nur vorwärts, vorwärts, sonst war sein Leben heute schon verloren und nicht erst in drei Tagen!

      Nach zehn Minuten hatte er gerade einmal zwölf Kilo­meter zurückgelegt. Am riesigen Patriarchenpalast bog er, ohne weiter zu überlegen, nach links ab und stand bald darauf vor den sich kilometerweit erstreckenden Hangar­komplexen.

      Wenn er hier hineingelangen könnte – wo sollte sich eine Fluchtmöglichkeit bieten, wenn nicht in diesen riesigen Hallen mit all ihren abflugbereiten Raumschiffen im Inne­ren? Aber er war sich im Klaren darüber, dass es völlig ausgeschlossen für ihn war, ohne Hilfe durch die mit Zugangscodes gesicherten Schleusen zu gelangen.

      Zwei vierschrötige Androiden, die Kassandra um zwei Köpfe überragten, kamen im Gleichschritt anmarschiert. Einer trug ohne Mühe ein massiges Gerät, das an einen überdimensionalen Kühlschrank erinnerte. Der andere hatte offensichtlich eine Störung im Bewegungskoordinationssystem, denn er schwankte beim Gehen bedenklich hin und her.

      Ohne Vorwarnung hielt er an und fiel unter lautem Scheppern und Klirren der Länge nach um. Sein Androidenkollege stellte den Kühlschrank direkt vor Kassandra ab, um dem Gestürzten zu helfen.

      Dies war die ersehnte Chance! Die Tür des Kühlgerätes war unverschlossen. Er unterdrückte die Furcht, sich selbst in absolute Dunkelheit einzusperren, kauerte sich in den Innenraum und schloss die Magnettür. Keine Sekunde zu früh: Er spürte, wie er emporgehoben wurde. Dann setzte ein gleichmäßiges Schaukeln ein.

      »Soll ich dich kühlen?«, fragte eine leise, auf unheimliche Weise tonlose Stimme.

      Kassandras Herzschläge schienen einen Moment lang auszusetzen. »Nein, danke«, antwortete er in die ihn umgebende Schwärze.