Shakespeares Sternenritt. Uta Rabenstein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uta Rabenstein
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Научная фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783946433101
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Kassandra

      Anstelle eines Vorworts

      Versuchen Sie auf allen Welten, die Sie im Laufe ihres Lebens betreten, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Studieren Sie die Gepflogenheiten der darauf lebenden Spezies und passen Sie sich so gut es geht an. Vor allem fühlen Sie sich niemals überlegen: Es entspricht in den meisten Fällen nicht den Tatsachen. Außerdem könnte Ihnen jemand begegnen, der Sie von früher her kennt.

      Zum ersten Mal, seit Kassandra denken konnte, also seit fast siebenundzwanzig Jahren, hatten sie vergessen, ihm seine tägliche Drogenration zu geben.

      Er fühlte sich nicht wohl, fast, als hätte sich ein Teil seines Selbst von ihm losgelöst und sich auf den Weg in eine der verbotenen Zonen gemacht.

      Normalerweise hatte alles einen festen Platz in seinem Leben, der Tagesablauf war stets der gleiche und seine Gefühlswelt geriet nur selten ein wenig aus dem Gleichgewicht. Dann erhielt er eben am nächsten Tag eine doppelte Ration Kügelchen und alles war wieder in Ordnung.

      Jeden Tag pries er dreimal im Gebet seine wichtigste Bestimmung, die er erfüllen durfte: Er war auserwählt, als Organ-Ersatzteillager für einen der obersten Patriarchen zu dienen.

      Diese Ehre hatte ihn lange Zeit mit Stolz und einem Glücksgefühl erfüllt, das sich mit nichts vergleichen ließ.

      In letzter Zeit allerdings hatten sie ihm mehrmals die doppelte Dosis verabreicht, ohne dass sich das bekannte Gefühl absoluten Wohlbefindens bei ihm einstellte.

      Dabei gab es überhaupt keinen Grund zur Unzufrieden­heit: Er hatte genug Nahrung, ein helles Zimmer, konnte so viel Sport treiben, wie er wollte, und ein bisschen Fortbildung war ihm auch erlaubt worden.

      Ein wenig verwirrt strich sich Kassandra die langen, glatten schwarzen Haare mit den schmalen Klauen aus dem Gesicht. Ob sie womöglich den kleinen Transferator finden würden, mit dessen Hilfe er heimlich per Fernkurs am Pilotenunterricht teilgenommen hatte?

      Es war so faszinierend gewesen, sich das ganze Wissen anzueignen – insbesondere die Kurse »Astronomie für Profis« und »Esperanto – die gebräuchlichste intergalaktische Plansprache in fünfundzwanzig Lektionen« hatte er förmlich aufgesaugt –, dass er bereit gewesen war, das Gesetz zu übertreten, obwohl die Strafe für unerlaubte Wissensaneig­nung grausam ausfiel: Verbannung in eines der Lager weit draußen, wo der unbrauchbare Ausschuss der Gesellschaft vor sich hin vegetierte. Oder man landete als sexuelles Spielzeug und Besamer bei den Grausamen Frauen, bis man erschöpft und ausgebrannt zugrunde ging.

      Seit jeher hatte selbst die Droge seine Sehnsucht, einmal seinen Heimatplaneten zu verlassen und fremde Welten zu erforschen, nicht ganz unterdrücken können. Schon einige Male hatte er die Männer, zu denen er Kontakt haben durfte, ganz vorsichtig gefragt, ob sie einen derartigen Wunsch teilten.

      »Unsere Stadt verlassen? Aber wer soll denn dann dem Patriarchen zu ewigem Leben verhelfen, wie es die Bestim­mung vorsieht?«, hatte die verständnislose Antwort gelautet.

      Es schien einfach jenseits ihres Vorstellungsvermögens zu liegen, die Heimatstadt oder gar den Planeten verlassen zu wollen.

      Die Frage, die Kassandra jedoch seit langer Zeit am meisten beschäftigte, war: Was war der Sinn des Lebens, insbesondere seines eigenen? Er wusste tief in seinem Inneren, dass er es erst herausfinden würde, wenn er auch das höchste Gesetz brechen und seiner Bestimmung entfliehen würde. Wie er dies allerdings bewerkstelligen sollte, war ihm bis heute nicht klar. Viel Zeit, es herauszufinden, blieb ihm nicht mehr.

      Kassandra versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Seine Angst wuchs nicht allein aus der Gefahr, dass sein heimliches Lernen entdeckt würde. Etwas Bedrohliches kam gleich einer violetten Gaswolke auf ihn zu.

      Er barg sein Gesicht in den trotz ihrer Zierlichkeit kräftigen Klauen und stöhnte auf. Richtig, in drei Tagen war er an der Reihe, seine Bestimmung zu erfüllen.

      Er würde freiwillig sein Leben geben, um dem Kriegspatriarchen weitere fünfzig Jahre Leben zu schenken. Dann würden auch seine Organe aufgebraucht sein, und der nächste würde sein Leben für den Patriarchen opfern. Wenn er nicht ... Er schob den Gedanken beiseite, so ungeheuerlich erschien er ihm.

      Er stellte sich vor, wie sein großer Tag ablaufen würde. Schon heute Abend würden sie mit den Vorbereitungen beginnen, ihm nur ausgesuchte, organschonende Nahrung geben, stabilisierende Medikamente hinzufügen, seine Kör­perfunktionen überprüfen. Kassandra erschauerte und ihm wurde leicht übel.

      Es gab zwar einen Kodex: Niemand durfte getötet werden, um an seine Organe zu gelangen. Er musste auf dem Operationstisch, wenn bereits sämtliche Apparate angeschlossen waren, mit einem Neuronenzerstörer Selbstmord begehen.

      Er hatte erst von zwei Fällen gehört, die nicht vorher als Ausschuss erkannt und aussortiert worden waren. Früher hatte er sie als Verräter verachtet, aber nun beneidete er sie: Ihnen war es vergönnt, weiterzuleben, wenn auch verstoßen in den Außenbezirken der Stadt, in die kein angesehener Bürger sich je verirrte.

      Die Vorbeter wurden nie müde, ihm und seinen auserwählten Mitspendern von den Wonnen zu erzählen, die sie nach der Erfüllung erwarteten: Sie würden auf einem Planeten in der Nähe von Cepheus wiedergeboren, wo sie so viel lernen könnten, wie es ihrer Gehirnkapazität entspräche.

      In seinem jetzigen Leben hätte Kassandra eigentlich nur eine Minimalbildung erhalten. Dank seines sensiblen Transferators, den er durch Zufall vor ein paar Jahren im Gebüsch gefunden hatte, war sein Wissen allerdings kontinuierlich gewachsen, was ihm durch sein fotografisches Gedächtnis nicht schwergefallen war: Was er einmal gehört oder gese­hen hatte, vergaß er nicht wieder.

      Verdammt, warum lebte er überhaupt? Um als lebender Organspender auf Abruf zu dienen? Eine unbekannte kalte Wut stieg langsam in Kassandra auf und ließ ihn die Klauen spreizen. Nach einigen Sekunden verebbte der Zorn und machte erneut Platz für die Unruhe, die ihn heute gepackt hatte.

      Obwohl er den Lautsprecher so leise wie nur möglich eingestellt hatte, drang doch die tägliche Musiksendung »Aus fremden Galaxien – primitive Klänge aus vergangenen Epochen des Universums« an sein Ohr.

      Nur bei den Nachrichten, die in regelmäßigen Intervallen ausgestrahlt wurden, schaltete sich der Empfänger ab.

      In seiner Position war es ihm nicht erlaubt, aus den Bereichen Politik, Geschichte oder Wirtschaft Informatio­nen zu sammeln.

      Heute ertönte der Singsang einer Frau namens Brittany Fears, der ihn an das schrille Gequake der Buforianer erinnerte, gedrungener Gestalten mit riesigem Maul, einer Kehlblase zur Lauterzeugung und schleimiger Haut.

      Kassandra wünschte sich, er könnte die Sinneszellen seiner Gehörgänge einfach abschalten, so sehr nervten ihn die ständigen Hintergrunddissonanzen.

      Nur in der Umlaufbahn von Fomalhaut gab es, wie Kassandra sich erinnerte, einen Planeten, auf dem diese dauernde Geräuschberieselung einen Sinn gehabt hätte: Dort befanden sich ausgedehnte Dschungelregionen mit Millionen gefräßiger Pflanzen, die nur bei ohrenbetäubend lauter Musik friedlich blieben. Deshalb trugen sämtliche nicht-pflanzlichen Dschungelbewohner Transistorradios bei sich, aus denen ununterbrochen intergalaktische Heavy-Metal-Musik dröhnte. Bemerkenswerterweise waren die genannten Dschungelbewohner allesamt taub.

      Um auf andere Gedanken zu kommen, stand Kassandra auf und ging zum Waschbecken. Ein Sprühnebel kalten Wassers benetzte seine statt Fingern Klauen tragenden handähnlichen Gliedmaßen, und er hielt sein Gesicht in die feuchte Kühle, bis es vor Nässe tropfte.

      Eine grässliche Vision erschien vor seinem geistigen Auge: Er lag völlig ausgeweidet auf dem Operationstisch, mit leeren Augenhöhlen, der Mund ein blutiges Loch, der Rumpf leergeräumt. Rasch klappte er den Absauger auf und übergab sich.

      Seine Situation war aussichtslos. In drei Tagen würde es ihn nicht mehr geben. Wenn sie herausfänden, dass er seiner Bestimmung nicht freudig entgegensah – den Gedanken wollte er gar nicht weiterspinnen.

      Nachdem er sich gründlich den Mund ausgespült hatte, griff er nach dem Flakon mit seinem Lieblingsparfüm.