Noch ein zweites Beispiel: Erst vor Kurzem haben wir in Augsburg das zehnjährige Jubiläum der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen Lutheranern und Katholiken gefeiert. Die Rechtfertigungslehre war im 16. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts der Hauptstreitpunkt. Heute sind Katholiken und Lutheraner überzeugt, einen Konsens in den Grundfragen der Rechtfertigungslehre gefunden zu haben, der die noch bestehenden Differenzen als tragbar erscheinen lässt. Diesem Konsens haben sich inzwischen auch die Methodisten angeschlossen, andere überlegen es sich noch oder bereiten sich darauf vor. Die Einheit wächst!
Schließlich: In den letzten beiden Jahren haben wir im Päpstlichen Einheitsrat die Ergebnisse der Dialoge der letzten 40 Jahre mit den wichtigsten evangelischen Kirchen (Anglikaner, Lutheraner, Reformierte, Methodisten) zusammengetragen und unter dem Titel »Harvesting the Fruits« (»Die Früchte ernten«) veröffentlicht. Ich war selbst überrascht, welch reiche Ernte wir da einfahren konnten. Wir haben weit mehr erreicht, als wir zuvor selbst gedacht haben. Für uns ein kräftiger Ansporn weiterzumachen.
Die Beispiele zeigen, dass die ökumenische Bewegung nicht stillesteht. Kein Grund also zu Alarmstimmung. Manchen mag der Weg, der noch vor uns ist, zu lang erscheinen. Ich kann solche Ungeduld verstehen. Wer an das Reich Gottes glaubt, muss unruhig werden. Aber die Ungeduld ist nur dann »heilige Ungeduld«, wenn sie gepaart ist mit Geduld – die man zu Recht schon als die »kleine Schwester der Hoffnung« bezeichnet hat. Ohne Umkehr, d. h. ohne Bereitschaft zum Um- und Neudenken, zum Abwerfen von Ballast und zum Aufgeben von Profilsucht, wird es nicht gehen – um sich vom Geist Gottes neue Wege führen zu lassen. Da muss jeder bei sich selber anfangen!
3. Aus orthodoxer Sicht
Athanasios Vletsis
1. Ökumenismus als Verrat des orthodoxen Glaubens und Rückkehrökumene als Lösung für das Problem der Kirchenspaltung?
Orthodoxe Kreise in Griechenland haben im April 2009 einen Text verabschiedet mit dem bezeichnenden Namen »Glaubensbekenntnis« (Omologia Pisteos)1. Wie jedoch der Untertitel des Dokuments verrät, geht es dabei nicht um eine neue Form des Credo (eine solche Vorstellung wäre orthodoxen Gläubigen suspekt), sondern um eine klare Abgrenzung des orthodoxen Glaubens vom ökumenischen Dialog, der von diesen Kreisen als »Panhäresie« und als Verrat des orthodoxen Glaubens abgelehnt wird. Die Rückkehr zur orthodoxen Kirche bleibt dann, nach diesem Verständnis, die einzige mögliche Lösung des Problems der Kirchenspaltung, denn allein die orthodoxe Kirche »repräsentiert die wahre katholische Kirche Christi«. Ist nun die Erfahrung, welche die Orthodoxen durch ihre Beteiligung an der ökumenischen Bewegung gesammelt haben, eine negative? Und wie soll nach den Prinzipien der »Rückkehr-Ökumene« der Dialog der Kirchen fortgesetzt werden?
2. Ökumenische Aktivität als vielfältige Bereicherung
Die Wahrnehmung des orthodoxen Glaubens durch den ökumenischen Gesprächspartner
Das ökumenische Patriarchat von Konstantinopel und die Orthodoxen, die an den vielfältigen Dialogen beteiligt sind, beurteilen jedenfalls die Rolle ihrer Kirche im ökumenischen Dialog ganz anders als das eingangs zitierte anti-ökumenische Manifest. Sie sind sogar stolz, dass gerade eine orthodoxe Kirche bei der Idee der Bildung einer Gemeinschaft (Koinonia) von Kirchen entscheidend beteiligt war.2 Auch wenn die verschiedenen orthodoxen Kirchen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und ihrem je eigenen Welthorizont erst allmählich zur Wahrnehmung der Bedeutung der ökumenischen Bewegung kamen3, hat ihre Aktivität in der ökumenischen Bewegung bleibende Spuren hinterlassen. Dadurch wurde nicht nur die reiche orthodoxe Tradition von anderen Kirchen neu entdeckt – auch für ihre eigene Selbstwahrnehmung hatte diese ökumenische Öffnung Rückwirkung gezeigt. Denn durch die Augen des Gesprächspartners sind orthodoxe Theologen selber zu einem vertieften Verständnis ihrer eigenen Tradition gelangt und haben damit Eigenschaften ihrer eigenen Identität besser kennen- und schätzen gelernt. Insbesondere folgende Bereiche theologischer Tätigkeit wurden im ökumenischen Dialog als ein wesentlicher Beitrag ostkirchlicher Identität hervorgehoben:
Die Erinnerung an den bindenden und normativen Charakter von Entscheidungen der gemeinsamen ökumenischen Konzilien im ersten christlichen Jahrtausend. Da diese Konzilien auf dem Boden der Ostkirchen stattgefunden haben, wurde oft genug im Verlauf der ökumenischen Anstrengungen auf die wichtige Rolle des ostkirchlichen Christentums zur Festigung des christlichen Glaubens verwiesen. Die dogmatischen Beschlüsse von ökumenischen Konzilien haben den Glauben an den Dreieinigen Gott und an seine heilsgeschichtliche Offenbarung in der Person seines Sohnes und in der Wirkkraft des Heiligen Geistes nicht in abstrakten Normen erfasst, sondern vorrangig in feierlichen doxologischen Formeln, wie insbesondere im Credo von Nizäa-Konstantinopel (325 - 381).
Die Doxologie (die Verherrlichung des Dreieinen Gottes) findet in der Tradition orthodoxer Kirchen ihren Ausdruck in der Vielfalt gottesdienstlichen Lebens. Die Wiederentdeckung der zentralen Bedeutung der eucharistischen Versammlung der Kirche Jesu Christi wurde als ein besonderer Impuls ostkirchlichen Lebens gewürdigt. Wird eine solche eucharistische Ekklesiologie betont, so kann man hoffen, dass sich dies auch im Sinne einer dynamischeren Gestaltung der kirchlichen Strukturen auswirkt.
Außerdem konnten auch die Werke der Patristik neu entdeckt werden. Die Schriften der Kirchenväter fungieren dabei nicht als das unfehlbare Zeugnis des Glaubens, an dessen Erfassung nicht gerüttelt werden darf; sie werden vielmehr als Ausdruck einer mystischen Vertiefung der Überlieferung interpretiert. Diese mystische Erweiterung christlichen Glaubens vermag eine Verengung in strengen, oft abstrakten dogmatischen Formeln zu sprengen – erst in diesem Sinn können die Kirchenväter recht verstanden werden.
Die Ökumene als Lernprozess auch für die Orthodoxen
Bei den vielfältigen Dialogen konnten die Orthodoxen nicht nur Zeugnis ihrer Tradition abgeben und damit das Spektrum christlicher Wahrnehmung erweitern. In vielerlei Hinsicht konnten sie auch selbst von der Erfahrung anderer christlicher Gemeinschaften lernen und sich bereichern lassen. Ich möchte wiederum exemplarisch drei Felder solchen ökumenischen Lernens für die Orthodoxie benennen, die in einer gewissen Entsprechung zu den oben erwähnten drei positiven Beiträgen orthodoxer ökumenischer Sensibilisierung stehen könnten:
Die (Wieder-)Entdeckung der sozialethischen Dimension des Glaubens als eine notwendige Ergänzung (und nicht als Widerspruch) zu doxologisch-gottesdienstlichen Lehraussagen. Orthodoxe selber haben das Wort von der »Liturgie nach der Liturgie« (ION BRIA) geprägt, um ihre Mitwirkung an den sozialethischen Aktivitäten des ÖRK zu beschreiben, konkret ihre Mitarbeit beim »Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung«. Gewiss gibt es noch viel zu lernen – so fehlt es z. B. manchmal an der kritischen Distanz ihrer Kirche zum national-staatlichen Leben (als Ergänzung und Korrektur des byzantinischen »Symphonie«-Prinzips). Jedenfalls trägt die Sensibilisierung für eine Reihe sozialer Fragen bereits Früchte, wie z. B. die Umweltaktivitäten des Ökumenischen Patriarchats zeigen.
Die bisherigen ökumenischen Beziehungen haben den Orthodoxen die Katholizität kirchlicher Existenz in ihrer universalen Öffnung anschaulich gemacht. Damit wird die Bedeutung der eucharistischen Ekklesiologie nicht einfach in den überschaubaren Grenzen von kleinen Gemeinden gezeigt – ihre Dynamik lädt nun ein, die Strukturen kirchlichen Lebens weltweit neu zu gestalten und das Leben der Kirche eucharistisch-missionarisch zu öffnen.
Durch das vielfältige sachliche ökumenische Gespräch wurden allmählich nicht wenige dogmatische Unterschiede der Vergangenheit weitgehend geklärt; damit verlieren nun Lehrunterschiede ihren trennenden Charakter. Man kann in dieser Kategorie nicht