Als Basisformel griff der ÖRK auf die Formel des CVJM von 1855 zurück, welche sich schon die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung zu eigen gemacht hatte: »Der ÖRK ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die unseren Herrn Jesus Christus als Gott und Heiland anerkennen.« Die dritte Vollversammlung von Neu-Delhi 1961 ergänzte diese bis heute gültige Formel zu »[…] die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«. Laut der zweiten Vollversammlung von Evanston 1954 ist diese Basisformel zwar kein gemeinsames Bekenntnis, aber doch mehr als eine bloße Einigungsformel. Durch ihre klare christologische und trinitarische Struktur ist einerseits gegenüber Sekten oder nicht christlichen Religionen eine klare Grenze gezogen, andererseits ist aber zugleich die Mitgliedschaft von Kirchen mit unterschiedlichem Kirchenverständnis ermöglicht. Eine solche schließt nicht automatisch ein, die anderen Mitgliedskirchen als Kirchen im Vollsinn anzuerkennen; es ist lediglich zuzugestehen, dass in anderen Kirchen zumindest Elemente der wahren Kirche realisiert sind. So macht z. B. die orthodoxe Kirche keinen Hehl aus ihrer Auffassung, als einzige Mitgliedskirche des ÖRK das altkirchliche Bekenntnis voll gewahrt zu haben. Der ÖRK hat keine Autorität über seine Mitgliedskirchen. Er versteht sich nicht als »Überkirche«, sondern als »Kirchen-Bund«, als Werkzeug, welches der Einheit der Kirche Jesu Christi dient, wie sie im Glaubensbekenntnis ausgesagt wird. Der ÖRK ist, wie die Sitzung des Zentralausschusses 1950 in Toronto klarstellte, »ekklesiologisch neutral«. Die Aufnahme einer Kirche in den ÖRK erfolgt durch die alle sechs bis acht Jahre stattfindenden Vollversammlungen oder durch den Zentralausschuss. Voraussetzung ist, dass diese Kirche zur Übernahme der Basisformel bereit ist und mindestens 50 000 Mitglieder zählt sowie dass mindestens zwei Drittel der Mitgliedskirchen zustimmen. Im Jahr 2010 gehören dem ÖRK 349 Kirchen der anglikanischen, orthodoxen und protestantischen Konfessionsfamilie an und damit weltweit mehr als 560 Millionen Christen. Er bildet eine Plattform, welche den Kirchenbünden wie den einzelnen Kirchen das ökumenische Miteinander und den Dialog erleichtert.
Auf seinen bisher neun Vollversammlungen standen unterschiedliche ökumenische Themen im Vordergrund. Die erste Konstante bildete die Diskussion sozialethischer Themen, ausgehend vom Leitbild einer »verantwortlichen Gesellschaft« im Dienst der ganzen Menschheit (nicht nur der Kirchen). Vor allem die sechste Vollversammlung 1983 in Vancouver vertrat unter dem Leitwort »Jesus Christus – das Leben der Welt« einen weiten Ökumenebegriff: Im Mittelpunkt standen die Überlebenschancen der Menschheit angesichts ökologischer, ökonomischer und militärischer Bedrohung. Der »Vancouver-Bericht« empfahl einen »konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung«, der in Europa zu den Europäischen Ökumenischen Versammlungen von Basel (1989), Graz (1997) und Sibiu (2007) führte. Seit Sibiu wird auf Vorschlag der orthodoxen Kirchen der 1. September als »Tag der Schöpfung« begangen.
Für Zündstoff sorgte das »Antirassismusprogramm« des ÖRK, das bereits auf der vierten Vollversammlung in Uppsala 1968 vorbereitet und auf der fünften Vollversammlung 1975 in Nairobi unter dem Motto »Jesus Christus eint und befreit« ausformuliert wurde. Mit »Kehrt um zu Gott, seid fröhlich in Hoffnung« initiierte die achte Vollversammlung 1998 in Harare die »Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt«, die 2011 in Kingston beendet werden soll. Auch das Motto der neunten und bisher letzten Vollversammlung 2006 in Porto Alegre »In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt« räumt ökumenischer Sozialethik einen breiten Raum ein. Hier wurden anhand des »AGAPE-Papiers« der Kirchen des Südens die Armutsfrage und die Verantwortung des Nordens diskutiert.
Die zweite thematische Konstante bildet das Ringen um Einheit. Bereits in Evanston hatte sich der ÖRK das sogenannte »Lund-Prinzip« zu eigen gemacht: Die dritte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung hatte 1952 in Lund empfohlen, die Kirchen sollten in allen Dingen gemeinsam handeln – außer in Fällen, wo tiefe Unterschiede der Überzeugung sie zwingen, für sich allein zu handeln. 1961 in Neu-Delhi formulierte die dritte Vollversammlung (an der zum ersten Mal katholische Beobachter teilnahmen) das Ziel universal als »Einheit aller an jedem Ort«. Die vierte Vollversammlung in Uppsala 1968 modifizierte die Zielvorgabe zur »Einheit aller Christen an allen Orten«. 1975 befasste sich die fünfte Vollversammlung in Nairobi mit der Frage, wie sich sichtbare Einheit verwirkliche, und forderte die Kirchen zum gemeinsamen Zeugnis an jedem Ort auf. Doch welches Einheitsmodell sollte in Zukunft maßgeblich sein: eucharistische oder konziliare Gemeinschaft? Multilateral konnte man zwar keine Einigung erzielen, doch dienten die Weichenstellungen mehreren Kirchen als bilaterale Grundlage. So ergänzte 1977 der Lutherische Weltbund in Daressalam das Modell einer konziliaren Gemeinschaft um die Betonung konfessioneller Aspekte und entwickelte sein Modell »versöhnter Verschiedenheit«: Konfessionelle Gemeinschaften bleiben weiterhin bestehen, verlieren aber ihren kirchentrennenden Charakter. Als Meilenstein auf dem Weg zu sichtbarer Einheit darf die »Konvergenzerklärung über Taufe, Eucharistie und Amt« der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung von 1982 in Lima gelten. Hier wurden eine weitgehende Übereinstimmung im Verständnis der Taufe und Konvergenzen im Eucharistie- und Amtsverständnis festgestellt. Die dort entworfene interkonfessionelle »Lima-Liturgie« ermöglichte ein Jahr später den Delegierten der sechsten Vollversammlung in Vancouver die Erfahrung gemeinsamer Gottesdienste (allerdings ohne dass Katholiken und Orthodoxe zur Kommunion gingen). Auch die siebte Vollversammlung in Canberra 1991, für die mit »Komm, Heiliger Geist, erneuere die ganze Schöpfung« zum ersten Mal ein pneumatologisches Motto gewählt war, hatte die Einheitsfrage als Schwerpunkt: Das Dokument »Die Einheit der Kirche als Koinonia: Gabe und Berufung« entwarf ein biblisches Konzept der koinonia (Gemeinschaft), welches Einheit und Pluralität einander zuordnete. Allerdings funktionierte die koinonia vor Ort nicht. Da manche ein gemeinsames Herrenmahl forderten, kam es mit den Orthodoxen zu heftigen Diskussionen über Eucharistiegemeinschaft und Frauenordination. Diese führten bis zur achten Vollversammlung in Harare 1998 zum Austritt der bulgarischen und georgischen Kirche und zur Einrichtung einer Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit. Auf der neunten Vollversammlung in Porto Alegre 2006 bildete die Einheitsfrage ebenfalls ein beherrschendes Thema: Das Dokument »Berufen, die eine Kirche zu sein« schlug erstmals konkrete Schritte zur Verständigung über das Kirchenverständnis vor, sodass sich Kirchen auf dieser Basis bilateral einigen können.
3. Die katholische Kirche und die Ökumene
Mortalium animos (1928) – Zweites Vatikanisches Konzil (1962 – 65) – Entwicklung bis 2010
Auf nicht katholischer Seite ging die Initiative zu ökumenischem Engagement von den Kirchenleitungen aus und ist, gestärkt durch Organisationen wie den Ökumenischen Rat der Kirchen, an die Basis gelangt. Für die katholische Seite stellt sich die Lage genau umgekehrt dar: Zunächst traf die ökumenische Bewegung auf ablehnende Reaktionen der Kirchenleitung. In der Enzyklika Mortalium animos von
1928 sah PIUS XI. (CHILLE AMBROGIO DAMIANO RATTI, 1857 – 1939) in ihr eine religiöse Version des Völkerbundes und warnte vor Scheinlösungen, welche Fragen des Glaubens und der Wahrheit hintanstellten. Eine katholische Beteiligung kam nicht infrage.
Doch