Dann, nach der Konzilsankündigung von 1959, ging alles sehr schnell: 1960 wurde das Vatikanische Einheitssekretariat gegründet. 1962 begann das Zweite Vatikanische Konzil, eines der wichtigsten Ereignisse der Ökumenegeschichte des 20. Jahrhunderts. Als erstes Konzil bekannte es sich zu einem ökumenischen Weg: 1964 verabschiedete es das Ökumenismus-Dekret Unitatis redintegratio, welches die ökumenischen Bemühungen um Einheit mit allem Nachdruck unterstützt. »Die Einheit aller Christen wiederherstellen zu helfen ist eine der Hauptaufgaben des Heiligen Ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils.«6 Es erkannte die Gläubigen aus anderen Kirchen als Schwestern und Brüder in Christus an, denen die Schuld an den Spaltungen nicht allein zukomme, und unterstrich: »Der Heilige Geist, der in den Gläubigen wohnt und die ganze Kirche leitet und regiert, schafft diese wunderbare Gemeinschaft der Gläubigen und verbindet sie in Christus so innig, dass er das Prinzip der Einheit der Kirche ist.«7 Weiter heißt es dort: »Die Sorge um die Wiederherstellung der Einheit ist Sache der ganzen Kirche, sowohl der Gläubigen wie auch der Hirten, und geht einen jeden an, je nach seiner Fähigkeit, sowohl in seinem täglichen christlichen Leben wie auch bei theologischen und historischen Untersuchungen.«8 Dass Ökumene kein privater Luxus, sondern Aufgabe der ganzen Kirche ist, findet in das nachkonziliare Kirchenrecht Eingang.9 Unitatis redintegratio steht nicht isoliert da, sondern in Zusammenhang mit anderen Konzilsaussagen, vor allem mit der Kirchenkonstitution Lumen gentium und der Pastoralkonstitution Gaudium et spes. Alle diese Dokumente vertreten keine exklusivistische Ekklesiologie: Die wahre Kirche Jesu Christi »ist verwirklicht« in der katholischen Kirche. Das schließt aber nicht aus, dass es auch außerhalb der katholischen Kirche Verwirklichungsformen und Elemente von Kirche geben kann. Getaufte Christen anderer Kirchen oder kirchlicher Gemeinschaften stehen durch ihre Taufe »in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche.«10 Zudem bietet die Hermeneutik einer »Hierarchie der Wahrheiten«11 Spielraum zur Diskussion. Nach dem Zweiten Vatikanum kann von katholischer »Rückkehr-Ökumene« nicht mehr die Rede sein. Vorherrschend ist eher eine »Integrations-Ökumene«12, die sich der »Fülle der Katholizität« verpflichtet weiß.
Noch in die Zeit des Konzils fiel das Treffen von Papst PAUL VI. (GIOVANNI BATTISTA MONTINI, 1897 – 1978) mit dem Ökumenischen Patriarchen ATHENAGORAS I. (ARISTOKLES SPYROU, 1886 – 1972) in Jerusalem – die erste persönliche Begegnung der Vorsteher von West- und Ostkirche nach 535 Jahren. Im Jahr darauf hob der Papst den Kirchenbann von 1054 auf. 1966 folgte ein denkwürdiges Treffen mit dem anglikanischen Primas MICHAEL RAMSEY (1904 – 1988); im September 1969 dann der Besuch des Papstes beim ÖRK. Seit 1968 ist die katholische Kirche Vollmitglied der »Kommission für Glauben und Kirchenverfassung« des ÖRK. 1972 entschied sich Rom jedoch gegen eine Mitgliedschaft im ÖRK selbst, denn die katholische Kirche ist hierarchisch und nicht demokratisch verfasst und konnte die dort vertretenen pluralen Einheitsmodelle nicht billigen. Außerdem sind beim ÖRK die Kirchen nach ihren Mitgliederzahlen repräsentiert, und Rom hätte so automatisch immer die Mehrheit der Stimmen gehabt.
Papst JOHANNES PAUL II. (KAROL WOJTYLA, 1920 – 2005) setzte mit der Enzyklika Ut unum sint von 1995 ein wegweisendes Zeichen. Er konkretisierte darin die Aussagen des Ökumenismusdekrets und lud z. B. ein, über eine ökumenisch akzeptable Form der Ausübung des Petrusdienstes nachzudenken. Auch das Schuldbekenntnis im Jahr 2000 war ein wichtiger Schritt zur Versöhnung zwischen den Kirchen. Seit Amtsantritt von Papst BENEDIKT XVI. (JOSEPH RATZINGER, geboren 1927) und seinem Besuch beim Ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel 2006 schien sich der Heilige Stuhl vor allem um Ökumene mit den Orthodoxen zu bemühen. 2009 verhinderte er allerdings eine Kirchenspaltung der Anglikanischen Gemeinschaft durch die Apostolische Konstitution Anglicanorum coetibus. Anglikaner, die nun zur katholischen Kirche übertreten wollen, können die liturgische Tradition der anglikanischen Kirche im Rahmen der neu gegründeten Personalordinariate beibehalten.
Die katholische Kirche bevorzugt in ihrer ökumenischen Arbeit bilaterale Gespräche mit einzelnen Kirchen. Die Früchte dieser Arbeit wurden 2009 vom Einheitsrat gesichtet und publiziert.13 So besteht z. B. bereits seit 1965 eine Dialogkommission mit dem Lutherischen Weltbund. Diese veröffentlichte eine Reihe von Konsensdokumenten (1972 den sogenannten Malta-Bericht »Das Evangelium und die Kirche« zu theologischen Grundsatzfragen; 1978 »Das Herrenmahl«; 1981 »Das geistliche Amt in der Kirche«; 1985 »Einheit vor uns«), bevor 1999 die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« offiziell einen »differenzierten Konsens« in Grundwahrheiten gerade jener Lehre feststellen konnte, an welcher die Einheit der abendländischen Kirche in der Reformationszeit zerbrochen ist. Die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts treffen demnach den heutigen Partner nicht mehr. 2006 unterzeichnete auch der Methodistische Weltbund diese Erklärung. Allerdings bewirkt sie noch keine Kirchengemeinschaft.
4. Jüngere ökumenische Entwicklungen
Kirchenunionen – Charta Oecumenica – Ökumene in Deutschland
Einige Kirchen haben die Zielvorgaben von Lausanne 1927, nämlich gegenseitige Anerkennung und volle Sakramentengemeinschaft, bereits erreicht. Zum ersten Mal seit dem Marburger Religionsgespräch zwischen HULDREICH ZWINGLI und MARTIN LUTHER im Jahr 1529 ermöglichte die »Leuenberger Konkordie« von 1973 wieder Abendmahlsgemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten. Zur Leuenberger Kirchengemeinschaft, die sich heute »Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa« (GEKE) nennt, gehören mittlerweile 95 Kirchen. Auch zwischen manchen lutherischen und anglikanischen Kirchen besteht Kanzel- und Altargemeinschaft. Das Problem, dass Lutheraner kein dreigliedriges Amt mit Bischof, Priester und Diakon und keine lückenlose apostolische Sukzession der Bischöfe haben, wurde dadurch gelöst, dass apostolische Nachfolge nicht nur eine ununterbrochene Kette von Bischöfen bedeutet, sondern die kontinuierliche Treue zur Lehre der Apostel. Durch die »Erklärung von Porvoo« im Jahr 1992 steht die Kirche von England in voller Kirchengemeinschaft mit den skandinavischen und baltischen Lutheranern.14 Auch die katholische Kirche kennt Kirchenunionen. 1984 unterzeichnete die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die Mitglied im ÖRK ist, mit der katholischen Kirche eine Einigung, wonach Fragen der Natur Christi nicht mehr kirchentrennend sind und pastorale Zusammenarbeit, Austausch bei der Sakramentenspendung und gemeinsame Priesterausbildung vereinbart wurden.
Seit den späten Fünfzigerjahren entstanden parallel zur Arbeit des ÖRK in vielen Teilen der Welt Konferenzen der dortigen Kirchen, z. B. in Europa die »Konferenz Europäischer Kirchen« (KEK). Zusammen mit dem »Rat der Europäischen Bischofskonferenzen« (CCEE) entwarf die KEK die Charta Oecumenica, eine Selbstverpflichtungserklärung der Kirchen in Europa, die 2001 in Straßburg unterzeichnet und 2003 auf dem ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin von den Mitgliedskirchen