Im Prinzip ist dabei der Grundsatz leitend, dass jede Ortsgemeinde charismatisch hinreichend begabt und damit kompetent ist, das Gemeindeleben selbstbestimmt und gemäß der eigenen Erkenntnis zu gestalten. Übergeordnete regulative Instanzen des Gemeindebunds spielen dabei kaum eine normative, sondern vor allem eine konsultative und pastorale Rolle. Diese Form des Gemeindelebens gründet im »allgemeinen Priestertum«, dessen oberste Instanz keine dogmatisch fixierten Lehrsätze, Bekenntnisse oder ein allgemeingültiges Kirchenrecht bilden, sondern die Versammlung aller Mitglieder, deren Beschlüsse die Gemeinde(n) insgesamt binden.5
Abgesehen von einigen grundlegenden Prinzipien – wie der Praxis der »Gläubigentaufe«, dem Vertrauen auf die normative Kraft der Bibel für die Lehre und die praxis pietatis, dem unbedingten Vorrang der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der Trennung von Staat und Kirche – sind die Gemeinden bei der Gestaltung ihres spirituellen Lebens weitgehend autonom und an keinerlei Weisungen von außen gebunden. Überörtliche Konferenzen und Tagungen, auf denen die Einzelgemeinden und die innerkirchlichen Werke durch Repräsentantinnen und Repräsentanten vertreten sind, haben daher immer auch den Charakter einer »innerkirchlichen Ökumene«, bilden diese ab und sind auf den Konsens durch die Einzelgemeinden angewiesen. Eng definierte Vollmachten wie die rechtliche Vertretung nach außen oder übergeordnete und die Gemeinschaft insgesamt betreffende Aufgaben werden an regionale (Leitung der Landesverbände) und nationale Institutionen (Präsidium und Bundesgeschäftsführung, gesamtkirchliche Werke) delegiert.
Über die jeweils herzustellende innere Ökumene hinaus stößt der Baptismus wie jede andere Kirche auf die äußere Ökumene, wenn die Beziehungen zu anderen Kirchen in den Blick geraten. Erfreulicherweise nehmen viele Vertreterinnen und Vertreter von Baptistengemeinden sowie die Kirchenleitung mit Interesse und Engagement an den Formen und Foren des zwischenkirchlichen Austauschs teil und gestalten diesen oft aktiv mit. Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) gehört u. a. zu den Gründungsmitgliedern der 1948 gegründeten Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland (ACK). Die Charta Oecumenica wurde anlässlich des Ökumenischen Kirchentags 2003 offiziell ratifiziert. Vertreterinnen und Vertreter des BEFG sind auch in Form von ökumenischen Lehrgesprächen, durch die Erteilung von kirchlichem Religionsunterricht und mittels vielfältiger diakonischer Vernetzungen mit anderen kirchlichen Einrichtungen ökumenisch verbunden. Zwischenkirchliche Kontakte und das Kennenlernen anderer christlicher Traditionen stoßen innerhalb von Baptistengemeinden auf eine offene Gesprächsatmosphäre, an der sich gerade die theologischen Laien engagiert und mit Interesse beteiligen. In ökumenischen oder interkonfessionellen Haus- und Gebetskreisen, in gemeinsamen Aktionen mit benachbarten Kirchengemeinden und vor allem im Bereich des gemeinsamen missionarischen Zeugnisses gewinnt diese Form der Ökumene eine konkrete und sehr pragmatische Gestalt. Mitglieder anderer Kirchen werden in baptistischen Gemeinden meist herzlich aufgenommen und stoßen in der Regel auf große Offenheit. Diese Offenheit zeigt sich nicht nur im Falle eines Konfessionswechsels, sondern auch gegenüber Gästen oder den oft fest in das Gemeindeleben integrierten Mitgliedern anderer Kirchen, die auch ohne volle Mitgliedschaft als »Freunde der Gemeinde« bei Baptisten integriert sind und das Leben dort in nahezu allen Bereichen mitgestalten.6
Wie lässt sich solche Vielfalt der »inneren« und »äußeren« Ökumene leben? Zunächst einmal belegt die Tatsache der Existenz von lebendigen und aktiven baptistischen Gemeinden, dass ein Kirchenmodell, welches auf Lehrkonsense sowie auf Machtbefugnisse überörtlicher Instanzen verzichtet, lebens- und zeugnisfähig und für viele Menschen durchaus attraktiv ist. Das ist auch von jenen Kirchen, die ein einheitliches dogmatisches Selbstverständnis für unabdingbar halten, zunächst einmal wahrzunehmen. Entsprechend ihrer basisorientierten Kirchenstruktur werden ökumenische Kontakte vor Ort durch jede einzelne Baptistengemeinde bestimmt und verantwortet. Allgemeine Stellungnahmen regionaler oder nationaler Leitungsgremien zur Ökumene haben dagegen nur den Rang einer »Empfehlung« für die Gemeinden, die selbst darüber entscheiden, was sie sich davon zu eigen machen. Daraus ergibt sich ein spezifisches Problem für freikirchliche Delegierte, sofern sie im Namen der Bundesgemeinschaft zu bestimmten Themen Stellung nehmen sollen. Diese Verlegenheit ist auch ein Hindernis für ökumenisch besetzte Gremien und im Rahmen zwischenkirchlicher Lehrgespräche. Es ist aufgrund des ständigen Vorbehalts einer Ratifizierung durch die Gemeinden oft schwer zu sagen, welche Position »die« (d. h. die Mehrheit der) Baptisten in Einzelfragen vertreten. Dies ist dem kongregationalistischen Grundverständnis geschuldet, dem die meisten, wenn auch nicht alle Freikirchen verpflichtet sind.7
Baptistinnen und Baptisten haben aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Ökumenizität innerhalb der eigenen Kirche meist ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Ökumene und können sich am Glauben anderer Kirchen und Gemeinden freuen. Andererseits zeigen sich besonders in stark evangelikal geprägten Gemeinden auch beachtliche Vorbehalte gegenüber der Ökumene. Dies ist allerdings kein spezifisch baptistisches Phänomen, sondern beruht auf einem interkonfessionellen Konsens des Evangelikalismus, der sich von den als »lau« und »inhaltsleer« geltenden Landeskirchen sowie von der katholischen Kirche abgewandt hat und deren (Volks-)Kirchlichkeit grundsätzlich infrage stellt. Derart geprägte Gemeinden, die sich gerne das Etikett einer »Gemeinde nach dem Neuen Testament« umhängen, verweigern sich aufgrund ihrer religiösen Hybris dem ökumenischen Gespräch und verstehen ihre religiösen Gemeinschaften als Protest- oder Gegenkirche. Ihr Selbstverständnis verdankt sich der Produktivität eines antikirchlichen Feindbilds, wobei sie in der Regel mit den konkreten Verhältnissen der Großkirchen und ihrer Spiritualität gar nicht vertraut sind. Sofern sich solche Gemeinden dennoch auf ökumenische Gesprächsebenen einlassen, werden diese für verborgene – meist »missionarische«– Strategien verzweckt. Man genießt die öffentliche Anerkennung, welche man als Gesprächspartner auf Augenhöhe genießt, und wird von dem (in unserer von religiösen Phobien durchsetzten Gesellschaft allgegenwärtigen) Sektenverdacht entlastet. Diese Verzweckung der Ökumene durch evangelikale Gemeinden dient ausschließlich eigennützigen Zielen, ohne ernsthaft an anderen kirchlichen Traditionen interessiert zu sein, die man auf der Grundlage einer Bibelorthodoxie als »unbiblisch« ablehnt. Einstellungen dieser Art sind innerhalb des Baptismus allerdings eher selten anzutreffen. Sie verdanken sich oft einem regionalen Frömmigkeitskolorit und sind historisch, soziologisch und anderweitig binnenkulturell bedingt.
Die Frage nach einer »institutionellen« Kirchengemeinschaft ist für den Baptismus im Unterschied zu anderen Kirchen bisher kaum ein ökumenisches Problem gewesen, da die Bekenntnisfreiheit jeder und jedes Einzelnen respektiert wird. Weil alle kirchlichen Institutionen nach baptistischem Verständnis vorläufig, historisch kontingent und damit auch widerrufbar sind, können Baptisten eine ökumenische Kirchengemeinschaft auch bei gravierenden Erkenntnisunterschieden jederzeit dort feststellen, wo Jesus Christus im Glauben bekannt wird und die Heilige Schrift als gemeinsame Grundlage für Glauben und Lebenspraxis Anerkennung findet.
Ausgangspunkt ist dabei, dass die Einheit der Kirche kein Werk menschlicher Erkenntnis, sondern Werk des Wortes Gottes ist (»ecclesia creatura verbi«). Kirchliche Einheit ist daher für Baptistinnen und Baptisten und auch für die Mehrzahl der Freikirchen nicht von einem zuvor festgestellten und gemeinsam formulierbaren dogmatischen »Bekenntnisstand« abhängig (etwa durch eine Übereinstimmung in der Rechtfertigungslehre). Das Grundbekenntnis, dass Jesus Christus, wie ihn die Heilige Schrift bezeugt, der eine Herr ist, wird als hinreichend für alle Formen ökumenischer Partnerschaften betrachtet, sofern sie sich biblisch rechtfertigen lassen. Leitend ist dabei ein Verständnis von der Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis, die sich erst eschatologisch auflöst.8 Kirchengemeinschaft ist nach baptistischem Verständnis daher selbst in der widersprüchlichen Gestalt getrennter Kirchen und unterschiedlicher Auslegungen feststellbar. Sie lässt sich, etwa in Form ökumenischer Gottesdienste und einer offenen Abendmahlspraxis aller an Christus Glaubenden, unabhängig von der jeweiligen Kirchenzugehörigkeit liturgisch feiern. Die gemeinsame Mahlfeier stellt daher eines der ökumenischen Potenziale des Baptismus dar. Den Primat einer einzelnen Kirche oder bestimmter Amtsträger können Baptisten dagegen nicht anerkennen und halten einen solchen weder für sinnvoll oder erforderlich noch überhaupt für herstellbar. Ökumene wird vielmehr als ein notwendiger Ausdruck des Beziehungsreichtums Gottes gedeutet. Diese auf einem radikal verstandenen