1910 fand nun in Edinburgh die erste Weltmissionskonferenz statt. Mehr als 1200 Teilnehmer trafen sich unter Vorsitz des amerikanischen Methodisten JOHN MOTT (1865 – 1955). Nur 17 Delegierte stammten selbst aus Missionsgebieten. Katholische und orthodoxe Vertreter waren nicht anwesend, trotz des weltweiten Anspruchs der Konferenz. Als ihr wichtigstes Ergebnis flossen nun die ökumenischen und internationalen Anliegen zusammen und wurden als drei ökumenische Grundanliegen programmatisch formuliert: die Evangelisierung der ganzen Menschheit, die Verpflichtung zu Frieden und sozialer Gerechtigkeit und die Einheit der Kirche selbst. Diese Anliegen wurden in den folgenden Jahrzehnten vom Internationalen Missionsrat, der Bewegung für Praktisches Christentum und der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung weiterverfolgt. Sie entwickelten sich zu drei parallelen Strängen der ökumenischen Bewegung. Im Internationalen Missionsrat arbeiteten die juristisch selbstständigen Missionsgesellschaften mit den Kirchen zusammen. Im Dunstkreis der imperialistischen Kolonialpolitik hatte die neuzeitliche Missionsbewegung den westlichen Konfessionalismus nach Asien, Afrika und Lateinamerika exportiert und zum Teil ein lokal nicht mehr überschaubares konfessionelles Wirrwarr hervorgerufen. Doch gerade in den Missionsgebieten machten die Kirchen im 19. Jahrhundert die Erfahrung, dass die Reproduktion der konfessionellen Spaltung ihren missionarischen Auftrag extrem behinderte. Statt zu konkurrieren und sich gegenseitig Konvertiten abzuwerben, schienen überkonfessionelles Engagement und Gemeinschaft viel verheißungsvoller. Das Missionsverständnis, welches sich seither auf den Weltmissionskonferenzen herausbildete, ist ganzheitlich und zielt nicht nur auf die Bekehrung einzelner, sondern auch auf soziales Engagement zur Veränderung der Welt und auf ein gemeinsames christliches Zeugnis gegenüber anderen Religionen. Es birgt allerdings immer noch Konfliktpotenzial: So bleibt angesichts der eigenständigen Theologien, welche die »jungen Kirchen« in den Missionsländern entwickelten, beispielsweise die Grenze zwischen legitimer Inkulturation und Synkretismus nach wie vor umstritten.
Auch in den Wirren des Ersten Weltkriegs brachen die Kontakte durch Initiativen zur Friedensförderung nicht ab. Einer der maßgeblichen Initiatoren war der lutherische Erzbischof von Uppsala, NATHAN SÖDERBLOM (1866 – 1931). Er schlug 1919 vor, einen »Ökumenischen Rat der Kirchen« als Vertretung aller Christen zu gründen. Dieser Vorschlag mündete 1925 in die erste Weltkonferenz für Praktisches Christentum, die in Stockholm stattfand. Unter Vorsitz SÖDERBLOM s arbeiteten 661 Delegierte (jetzt auch orthodoxe) aus 37 Ländern in sieben »Sektionen« an friedenspolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen. Die Botschaft dieser Konferenz betont: »Je näher wir dem gekreuzigten Christus kommen, umso näher kommen wir einander, wie verschieden auch die Farben sein mögen, in denen unser Glaube das Licht widerstrahlen lässt.«1
Die nationalistischen Bewegungen der Dreißigerjahre sowie die Tatsache, dass mittlerweile in der Sowjetunion, in Italien und in Deutschland totalitäre Regime an der Macht waren, machten eine Besinnung auf die Zuordnung von Kirche, Volk und Staat notwendig. Ökumene wurde nun zu einem Hoffnungszeichen in dunkler Zeit. Die zweite Weltkonferenz für Praktisches Christentum 1937 in Oxford folgte nach heftigen Diskussionen der »Bekennenden Kirche« und machte sich im Prinzip deren Barmer Theologische Erklärung von 1934 zu eigen (obwohl das NS-Regime die Ausreise der deutschen Delegation verhindert hatte).
Ebenfalls als direkte Folge von Edinburgh 1910 luden auf Initiative des anglikanischen Missionsbischofs CHARLES H. BRENT (1862 – 1929) die amerikanischen Kirchen zu einer Weltkonferenz ein: Durch einen Vergleich der Kirchen sollten auf der Grundlage des Bekenntnisses zu Jesus Christus Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Glauben und Kirchenverfassung festgestellt werden. Im Gegensatz zur Bewegung für Praktisches Christentum, in welcher Fragen des Glaubens und des kirchlichen Amtes tendenziell eher zurückgestellt wurden und stattdessen nach der Maxime »Die Lehre trennt, der Dienst eint« das gemeinsame Zeugnis im Vordergrund stand, wollte die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung gerade diese Fragen bewusst thematisieren. Doch erst nach dem Ersten Weltkrieg konnten die amerikanischen Kirchen in Europa für ihr Vorhaben Zustimmung finden. Vor allem sicherten nun auch die orthodoxen Kirchen ihre Mitarbeit zu; so sandte das Ökumenische Patriarchat 1920 eine Enzyklika »An die Kirchen Christi in der ganzen Welt«2, die dazu einlud, einen Kirchenbund nach dem Vorbild des im selben Jahr gegründeten Völkerbundes ins Leben zu rufen und eine Gemeinschaft (griech. koinonia) der Kirchen als Ziel der ökumenischen Bemühungen anzustreben. Die katholische Kirche allerdings lehnte jede Mitarbeit ab.
Die erste Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung fand 1927 in Lausanne statt. Mit 394 Teilnehmern aus 108 Ländern stand sie für ein weltumspannendes Konzept von Ökumene. Die Präambel zeugt von Einheitsoptimismus: »Mit Dank gegen Gott freuen wir uns der erreichten Verständigung. Auf das, worin wir einig sind, bauen wir weiter. Wo die Berichte aber Differenzen verzeichnen, da möge man – und wir rufen die ganze christliche Welt dazu auf – die widerstreitenden Meinungen, wie sie zur Zeit vertreten werden, einer ernsten Nachprüfung unterziehen und in dem Bemühen nicht erlahmen, die in Gottes Gedanken vorhandene Wahrheit zu finden, auf welche die Einheit der Kirche sich gründen muß.«3
Eine der Grundfragen der Ökumene lautet bis heute: Welche Einheit wollen wir? Orthodoxe und römisch-katholische, aber auch anglikanische Christen können sich Einheit letztlich nur als sichtbare echte Vereinigung vorstellen; alles andere sind bloße Zwischenschritte auf dem Weg zu wahrer Einheit. Auch in Lausanne standen sich bereits zwei Einheitskonzeptionen gegenüber: die »Organische Union«, ein vor allem von anglikanischer Seite favorisiertes Modell der Fusion von Kirchen auf der Grundlage gemeinsamer Glaubensartikel,4 und die »Föderation« als Zusammenschluss weiterhin selbstständig bleibender Konfessionskirchen, wofür die protestantischen Kirchen plädierten. Auch wenn es zu keiner Einigung kam, wurde doch das Ziel klar umschrieben: Am Ende sollen sich die Kirchen gegenseitig als Kirchen anerkennen und einander volle Sakramentengemeinschaft gewähren.
Die zweite Weltkonferenz von Glauben und Kirchenverfassung fand 1937 in Edinburgh statt. Hier trafen sich etwa 450 Delegierte unter Vorsitz des anglikanischen Erzbischofs WILLIAM TEMPLE (1881 – 1944). Man erreichte eine Verständigung über »Rechtfertigung und Heiligung« sowie »Wirken Gottes und Verantwortung des Menschen«. Die schon in Lausanne zu Tage getretenen Gegensätze in den Punkten »Amt«, »Kirchenverständnis« und »Einheit« blieben zwar bestehen, doch wurde der sich abzeichnende Konsens in der Rechtfertigungslehre als Grundlage für eine zukünftige Anerkennung der Ämter und für eine gegenseitige Zulassung zu den Sakramenten gesehen. Nach wie vor blieb aber zwischen reformatorischen und orthodoxen Kirchen umstritten, ob die gegenseitige Zulassung zum Abendmahl Mittel zur Erreichung der Einheit oder erst Ausdruck bereits erreichter Einheit sei.
2. Der Ökumenische Rat der Kirchen (1948 – 2010)
Entstehung – Selbstverständnis – Schwerpunktthemen der Vollversammlungen
NATHAN SÖDERBLOM hatte schon 1919 seine Idee eines Weltkirchenrates geäußert. 1937 war sie durch Erzbischof WILLIAM TEMPLE und WILLEM A. VISSER’T HOOFT (1900 – 1985), den späteren ersten Generalsekretär, aufgegriffen worden. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg – zum Teil auch veranlasst durch die Rolle der Kirchen während dieser Konflikt- und Krisenzeit – kamen 1948 in Amsterdam 361 Delegierte von 147 Kirchen aus 44 Ländern zusammen, um den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) ins Leben zu rufen. Nach dem »Stuttgarter Schuldbekenntnis« von 1945 war auch die Teilnahme einer deutschen Delegation wieder möglich.