Sie durchschritt das Mittelschiff und beobachtete überall in den einzelnen Nischen Gruppen von Gläubigen oder Mönche, die beteten. In den Nischen befanden sich tempelähnliche Aufbauten, die sie an steinerne Schreine erinnerte. Sie erreichte den Chor. Und gelangte in ein zweites, größeres Atrium, das von einem Säulengang umgeben wurde. Diesem folgte sie zu einem ebenfalls von Säulen gesäumten Rundgang, in dessen Mitte sich ein weiterer steinerner Aufbau fand. Sie sah einige Mönche davor beten und murmelte selbst ein paar Worte vor sich hin, wobei sie sich fragte, ob es nicht ziemlich vermessen war, von einem Gott Hilfe zu erwarten, zu dessen Glauben man sich gar nicht bekannt hatte.
Möge unser Schicksal zum Guten gewendet werden!, dachte sie. Vor allem das von Gao, der nichts getan hat, um diese schreckliche Krankheit zu verdienen...
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Li hörte Schritte, die sie aus ihrer Versenkung, in der sie sich für wenige Augenblicke befunden hatte, ablenkten. Sie wandte den Kopf und sah einen Mönch, der jetzt stehengeblieben war und ihren erstaunten Blick erwiderte.
Sie hatte sich nicht getäuscht, als sie geglaubt hatte, Bruder Anastasius im Gedränge auf der Straße erkannt zu haben.
Nun stand er da und starrte sie an, als wäre sie selbst eine überirdische Erscheinung. Er näherte sich ihr. Li bemerkte, dass er sich mit einer blau gefärbten Kordel umgürtet hatte, so wie es offenbar in dieser Stadt für Christen üblich war.
„So führen uns die Wege des Herrn wieder zusammen“, sagte Bruder Anastasius.
„Seid gegrüßt, Bruder Anastasius. Wart Ihr nicht eigentlich auf dem Weg nach Konstantinopel?“
„Gewiss – und das bin ich noch. Aber in Syrien herrscht Krieg. Nicht etwa zwischen Christen und Muslimen, sondern unter den Muslimen selbst. Und außerdem wurde ich in Bagdad Opfer von Straßenräubern, die mich in einer engen Gasse überwältigt haben und ohne eine einzige Kupfermünze zurückließen.“
„Wie gedenkt Ihr nach Konstantinopel zu gelangen?“, fragte Li.
„Mit einem Schiff. Ein normannischer Händler namens Ragnar der Weitgereiste weilt zur Zeit hier in Jerusalem und folgt seine verworrenen Geschäften. Er ist ein Veteran der Waräger-Garde und hat beste Verbindungen zu höchsten Würdenträgern. Man sagt sogar, dass der Kaiser ihm bei irgendeiner Gelegenheit sein Leben verdankte.“
„Und er wird Euch mitnehmen, ohne etwas dafür zu verlangen?“
Bruder Anastasius schüttelte den Kopf. „Deine Frage klingt fast so, als würdest du ihn kennen und um seinen ausgeprägten Geschäftssinn wissen. Er nimmt mich mit, weil er glaubt, dass es ihm Glück bringt, einen Mann Gottes an Bord zu haben. Inzwischen mache ich mich im Muristan nützlich, und helfe die Kranken zu pflegen...“
„Muristan – ein Irrenhaus?“, vergewisserte sich Li, die den persischen Ursprung dieses Wortes gleich erkannte.
Bruder Anastasius lächelte nachsichtig. „Nein, es ist ein Spital für kranke Pilger und Fremde, die sich nicht mehr selbst helfen können.“
„Gibt es gute Ärzte dort?“
„Ja, die gibt es, ohne dass ich behaupten möchte, dass letztlich zu beurteilen zu können. Ich bin schließlich nur in einem geringen Maß heilkundig. Doch warum willst du das wissen?“
Und so erzählte Li von Gao und ihrer Verzweiflung, was seinen sich stetig verschlechternden Zustand anging. „Sollte es ihm eines Tages noch schlechter gehen – glaubt Ihr, das man ihn dort aufnehmen und behandeln würde.“
„Gewiss.“
„Obwohl er Muslim ist?“
„Auch dann. Allerdings sollte er das Muristan im Moment meiden. Es grassiert gerade ein schlimmes Fieber in der Stadt, dass besonders unter den Pilgern wütet. Das Muristan ist völlig überbelegt. Es gibt so viele Kranke und Siechende, dass man ihnen kaum allen helfen kann. Das ist im übrigen auch der Grund dafür, dass ich dort helfend eingesprungen bin und meine gesamte Zeit dort damit verbringe, den Kranken zu helfen – abgesehen von meinen tägliche Gebeten, die ich nach Möglichkeit hier, am Grab Christi, verbringe.“ Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: „Ich werde Gao in meine Gebete miteinschließen.“
„Habt Dank“, murmelte Li.
„Der Herr sei auch mit dir.“
Vierzehntes Kapitel: Neue Wege
„Man mag dich in Zukunft die Meisterin des Wasserzeichens nennen“, sagte Meister Wang, nachdem er die fertigen Blätter einzeln ins Licht gehalten hatte. Die Werkstatt war immer noch ein Provisorium. Aber immerhin gab es ein Schöpfbecken und gute Siebe. Und vor allem auch genug Lumpen, um daraus Papier machen zu können. Bei der Presse musste man sich behelfen – und das würde wohl auch auf absehbare Zeit so bleiben. Die zu trocknenden Blätter wurden wie gehabt zwischen je zwei Lagen aus Filz gelegt, die dann mit Steinen beschwert wurden.
Li hatte ein Wasserzeichen entworfen, das die Kuppelform des Felsendoms nachzuzeichnen suchte.
Meister Wang ließ das Blatt, das er gerade in der Hand hielt, dann plötzlich sinken. Er stützte sich an der Wand und wirkte aschfahl. Schon seit einigen Tagen hatte Li bemerkt, dass es ihrem Vater nicht allzu gut ging, auch wenn er selbst das immer bestritten hatte, wenn sie ihn darauf ansprach. Aber er hatte matt und schwach gewirkt.
Er hielt sich nun kurz den Bauch.
„Was ist mit dir, Vater?“
„Das wird das Essen der Araber sein. Das ist mir noch nie gut bekommen... Eine fade Küche ohne Geschmack! Aber das ist ja auch kein Wunder,