„Entschuldige, aber du kannst nichts für meinen Schrecken“, sagte sie auf Griechisch.
„Oh, eine bekannte Zunge in diesem Haus!“, sagte der Nordmann. „Das freut mich, denn außer dir kann hier niemand eine menschliche Sprache, während ich nicht in der Zunge dieser Leute zu reden vermag!“ Der Nordmann zuckte mit den Schultern. „Aber über den Preis, den meine Männer und ich hier zu entrichten haben, konnten wir uns trotzdem einigen!“, fügte er noch hinzu.
„Wer bist du?“
„Man nennt mich Ragnar den Weitgereisten.“
„Bist du ein Pilger?“
Der Nordmann lachte und setzte sich den Helm ab. Sein Haar war so grau wie seine Augen. Über die Stirn zog sich eine Narbe vom Haaransatz bis zur Nasenwurzel, die vermutlich von einem Schwertstreich stammte. „Ich bin ein Pilger des Mammon!“, meinte er. „Mögen andere die Grabeskirche besuchen, wo angeblich das Kreuz Jesu Christi stand – ich bin einiger Geschäfte wegen hier in Jerusalem.“
„Du kommst aus Konstantinopel?“
„Nein – nicht jetzt.“
„Aber du hast dort in der Waräger-Garde des Kaisers gedient.“
Die Augen von Ragnar dem Weitgereisten wurden schmal. Die Männer, die bei ihm waren, machten Bemerkungen in der Sprache der Nordmänner, die sicher alles andere als respektvoll waren. Ihrem Gelächter zu folge war es wohl besser, dass Li sie nicht verstand.
Ragnar antworte ihnen, woraufhin sie ins Haus gingen.
Dann kam der Waräger etwas näher.
Er trug ein gerades Schwert am Gürtel, um dessen Griff sich jetzt seine mächtige, prankenartige Hand legte. „Es gibt im fernen Osten Menschen mit allerlei seltsamen Fähigkeiten, so sagt man. Darunter auch viele Hellseher und Magier. Bist du auch eine Hellseherin oder woher weißt du so viel über mich?“
„Ich weiß gar nichts über dich, sondern denke mir nur eins zum anderen. Du bist ein hellhäutiger Mann mit blauen Augen, der einen Helm trägt, wie ihn die Nordmänner bevorzugen - und sprichst Griechisch. Wo solltest du das wohl gelernt haben, außer in Konstantinopel?“
„Für eine Frau hast du einen ziemlich scharfen Verstand“, gestand er zu. „Schade, das du kein Mann bist, dann würde ich dich für meine Mannschaft anwerben!“ Er maß sie auf eine so unverschämte Weise, wie das offenbar bei den Nordmännern gang und gäbe war und fügte dann noch hinzu: „Für eine Frau hast du nur leider zu kleine Augen! Das mag ich nicht!“
Mit diesen Worten wandte er sich um und folgte den anderen Männern, mit denen er gekommen war.
Li bemerkte in diesem Augenblick, dass Jarmila ihr Zusammentreffen mit Ragnar dem Weitgereisten beobachtet hatte. Sie stand im zweiten Stock des Hauptgebäudes an einem der hohen Fenster, halb hinter einem Vorhang verborgen, der jetzt durch den aufkommenden Wind leicht bewegt wurde. Als Li hinaufschaute, verschwand sie.
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An einem der nächsten Tage war Li zusammen mit Gao in den engen Gassen unterwegs, um etwas Haschisch zu kaufen. Die Münzen dafür hatte Li zusammengespart, indem sie mit einigen Lumpenhändlern gut verhandelt hatte. Die Tatsache, dass sie kaum Arabisch sprach, war dabei vielleicht sogar hilfreich gewesen. Schließlich hatte sie das meiste gar nicht verstanden, was die jeweiligen Händler gesagt hatten und so war sie auch vollkommen unempfindlich gegenüber ihrer beredeten Verhandlungstaktik gewesen.
Jamal war das schnell aufgefallen. Er hatte Li zu Anfang bei solchen Anlässen stets begleitet, aber offenkundig nie besonders viel Lust dazu gehabt. „Du kannst das am besten. Wenn ich daneben stehe, glauben sie dir die stumme, sprachlose Frau nicht, also geh in Zukunft besser allein. Du musst nur mit Firuz genau abrechnen, wie viele Münzen du ausgegeben hast!“ Und als er Lis überraschten Blick gesehen hatte, fügte er noch hinzu: „Es gab schon Sklaven, die für Kalifen als Wesire dienten und ganze Länder in ihrem Auftrag regierten, da wirst du ja wohl ein paar Münzen für deinen Herrn ausgeben können. Es sei denn, du hast vor mit diesen wertvollen Lumpen durchzubrennen!“
Und sie ließ er sie von nun an allein in die Altstadt von Jerusalem gehen, wenn etwas zu besorgen war.
Haschisch wurde von zahlreichen Händlern angeboten. Bei manchen konnte man sogar zusehen, wie sie diese Arznei herstellten, wie sie den Harz der weiblichen Hanfpflanze herauspressten und ihn in eine Form brachten, die gut einzunehmen war. Man konnte das Haschisch mit Getreide verbacken oder aber es in Flüssigkeit auflösen und trinken. Oder man verbrannte es mit Weihrauch und atmete es ein, aber da Gao ohnehin schon Schwierigkeiten genug mit der Atmung hatte und Weihrauch zudem sehr viel teurer war, kam dies nicht in Frage. Es gab Geschichten über Karawanenführer, die das Haschisch in reiner Form den Kamelen in die Nasenlöcher steckten, um sie bei einem aufziehenden Sandsturm zu beruhigen.
Schließlich fanden sie in einer Gasse in der Nähe der Grabeskirche einen Händler, mit dem sie sich handelseinig wurden.
In der Menge fiel Li eine Gruppe von christlichen Mönchen auf, die singend in Richtung der Grabeskirche gingen.
Für einen Moment glaubte Li unter den bärtigen Mönchsgesichtern jenes von Bruder Anastasius wiedererkannt zu haben. Sie wollte ihm folgen, um sich zu vergewissern, doch das Gedränge in der engen Gasse war zu groß. Eine Gruppe von Männern und Frauen, die untereinander irgendeine Abart des Lateinischen sprachen, handelten mit Hilfe von Händen und Füßen mit einem Händler, der allerlei angeblich heilige Fundstücke zum Verkauf anbot. Nägel, mit denen Jesus ans Kreuz geschlagen worden war und Splitter aus den Kreuzesbalken, die ganz in der Nähe gefunden worden wären, auf dem Hügel Golgatha. „Also genau dort, wo jetzt die Kirche steht!“, sagte der Händler in einem Latein, bei dem sogar Li merkte, dass es falsch sein musste. Aber der Händler wurde von den Pilgern anscheinend gut verstanden, denn die griffen bereitwillig zu den Silbermünzen in ihren Börsen.
„Komm Li, lass uns gehen!“, forderte Gao.
„Da war Bruder Anastasius!“
„Ach, Li! Das war nur einer unter vielen Männern mit langen Bärten! Die sehen doch alle gleich aus! Du wirst dich vertan haben!“
„Das glaube ich nicht. Gao, sie werden sicher zur Grabeskirche gegangen sein. Vielleicht...“ Noch einmal ließ sie suchend den Blick schweifen und stellte sich dabei auf die Zehenspitzen, aber von den singenden Mönchen war nichts mehr zu sehen. Ihre Gesänge vermischten sich mit dem Stimmengewirr und dem Lärm der Gasse und waren dann auch schließlich nicht mehr zu hören.
Li seufzte und sah Gao an. „Vielleicht nützt es was, wenn du dort betest, wo Jesus gekreuzigt wurde. Der Glaube an Mohammed hat dir nicht geholfen – genauso wenig wie die Medizin der Ärzte oder die Geister unserer Ahnen. Vielleicht ist dieser Glaube stärker!“
Aber Gao schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde auf keinen Fall mit dir gehen“, erklärte er.
„Wieso nicht?“
„Du weißt doch, dass ich inzwischen Muslim bin...“
„Na und?“
„Und du weißt auch, dass ein Muslim, der zum Christentum übertritt, damit ein todeswürdiges Verbrechen begeht!“
„Wer sagt denn, dass du gleich Christ wirst?“
„Ich will aber auch nicht, dass jemand denkt, dass ich das tun wollte.“
„Dann werde ich allein gehen!“, kündigte Li an.
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