Jedenfalls konnte Li nicht einfach durch Lauschen in Erfahrung bringen, was ihr an Wissen fehlte.
Bei den Fremden, die in der Stadt waren, hörte sie wiederum teilweise sehr vertraute Worte in Latein, Griechisch und Dialekten, die dem Lateinischen irgendwie verwandt sein mussten.
Firuz' Großonkel hatte ein großes Haus, dass auch als Herberge für durchziehende Karawanen genutzt wurde. Das, was er dabei einnahm, sicherte ihm offenbar einen Teil seiner Einkünfte. Der andere kam wohl aus dem Handel mit verschiedenen Waren.
Da das Haus im Moment gut belegt war, mussten Li, Meister Wang und Gao im Stall schlafen.
Der Großonkel war ein Mann, dessen Alter schwer zu schätzen war. Der Bart war grau, die Augen lagen sehr tief und er wirkte sehr dünn und knochig, worüber seine weiten Gewänder etwas hinwegtäuschten. Beim Gehen stützte sich Abu Khalil auf einen Stock, in dessen Knauf goldene Verzierungen eingearbeitet waren.
Als Firuz ihm die drei Papiermacher vorstellte, musterte er sie von oben bis unten und und sagte einige Worte auf Arabisch, die keiner von ihnen verstehen konnte.
„Mein Großonkel heißt euch willkommen in seinem Haus. Ihr genießt seinen Schutz, aber schuldet ihm dafür auch euren Gehorsam.“
Li senkte nur das Haupt.
Abu Khalil sagte erneut etwas und dann entspann sich ein etwas längerer Wortwechsel zwischen Abu Khalil und seinem Großneffen. Sie sprachen beide Arabisch, während Firuz immer wieder mit großen Gesten versuchte, seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Man hätte denken können, dass er gerade dabei war, irgendeine Ware im Basar anzupreisen, so kam es Li vor. Und die Tatsache, dass sie nur einzelne Worte von dem verstand, was gesagt wurde, sorgte dafür, dass die besonderen Eigenarten von Firuz' Redeweise noch mehr hervortraten. Immer wieder hörte sie die Wörter „schreiben“ und „Buch“ heraus. Es konnte eigentlich keinen Zweifel daran geben, dass Firuz gerade versuchte, Abu Khalil von seiner Idee einer Papierfertigung zu überzeugen.
Der alte Mann nahm dies mit einem zunächst regungslosen und dann immer skeptischer werdenden Gesicht hin. Die Falten auf seiner Stirn furchten sich immer tiefer hinein und es war überdeutlich, dass er nicht denselben Enthusiasmus für den Plan seines Großneffen hegte, wie dieser ihn zum Ausdruck brachte.
Li nahm eines der Blätter mit dem Wasserzeichen der Rose hervor, die sie zusammengefaltet bei sich trug.
„Seht dieses!“, sagte sie. Dafür reichte ihr Arabisch.
Abu Khalil war überrascht. Etwas zögernd nahm er das Blatt und entfaltete es.
„Ins Licht!“, sagte sie. „Fi nur!“
Der alte Mann machte ein paar Schritte in Richtung des Fensters, durch das man in den Innenhof sehen konnte und als Firuz sah, dass Abu Khalil offenbar Mühe hatte, seinen Arm hoch genug zu heben, nahm er seinem Großonkel wortreich das Blatt aus der Hand und hielt es so ins Licht, dass das Wasserzeichen deutlich zu sehen war. Ein Schwall von Worten drang daraufhin aus Firuz' Mund. Li fühlte sich an die Aufdringlichkeit mancher Basaris erinnert, die jeden der vorbei kam mit Angeboten nur so überschütteten.
Abu Khalil brachte ihn jedoch mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er starrte einige Augenblicke auf das Bild und seine Gesicht war anzusehen, wie sehr ihn dieser Anblick faszinierte. „Allah“, flüsterte er tief bewegt.
Der alte Mann wandte sich an Li und Firuz übersetzte, was er sagte.
„Kannst du so etwas mit anderen Formen erschaffen?“
„Ja, Herr.“
„Auch mit Sprüchen aus dem Koran?“
„Ja, auch das ist möglich.“
„Und in großer Anzahl?“
„Das hängt davon ab, wie viele Hände mir helfen und ob genug Lumpen da sind.“
„Lumpen?“
„Man zerschlägt sie und schöpft daraus das Papier.“
Abu Khalil nickte. Und dann klopfte er Firuz anerkennend auf die Schulter. Er schien rundum zufrieden mit seinem Großneffen zu sein. Und da sie auch das Wort für Diamant hörte, dass auf Persisch und Arabisch gleich war, nahm sie an, dass sich diese Zufriedenheit wohl auch darauf bezog, dass Firuz es geschafft hatte, einige der wertvollen Steine aus Indien nach Jerusalem zu bringen.
––––––––
Die nächsten Tage vergingen verhältnismäßig untätig. Die drei Papiermacher bekamen genug zu essen, auch wenn sich Li wohl nie daran gewöhnen konnte, dass sie mit den anderen Frauen zusammen im Kreis saß und sich alle mit den Händen von dem hauptsächlich aus Couscous bestehenden Mahlzeiten nahmen. Die Kunst, mit Stäbchen zu essen, war westlich von Xi Xia nicht bekannt und Li versuchte stets den Rat ihres Vaters zu befolgen, der ihr gesagt habe, dass man sich den Grad der Unreinheit besser nicht vorstellen sollte. „Sei gewiss, dass du deinem Körper mehr schadest, wenn du gar nichts isst, als wenn du auf die Art der Barbaren die Mahlzeit nimmst“, hallten Meister Wangs Worte in ihrem Inneren wider.
Das hatte für das ungeheuer fette Essen der Uiguren ebenso gegolten, wie für die Gerichte, die man unter Persern oder Arabern bevorzugte.
Da auch die Frauen aus dem Haushalt von Abu Khalil mit ihnen aßen, wurde viel Arabisch gesprochen. Auch Jarmila und Fadia beherrschten die Sprache des Propheten offenbar, auch wenn Li das Gefühl hatte, dass sich einige der anderen Frauen, manchmal etwas über die Aussprache der beiden lustig machten. Alya hingegen sprach so, als hätte sie nie irgendwo anders gelebt. Sie brachte auch die tief im Hals gefühlten Reibelaute, die dieser Sprache ihren besonderen Charakter gaben auf eine völlig natürliche Weise über die Lippen und Li fragte sich, ob es nicht für ihr Kind sehr verwirrend sein musste, ihre Mutter mal in der einen und mal in der anderen Zunge reden zu hören.
Aber vielleicht war es ja so, dass es von Anfang an beide Sprachen lernte und vielleicht noch nicht einmal bewusst den Unterschied wahrnahm, wenn es etwas älter war und anfing, selbst zu sprechen.
Li hielt sich sehr zurück. Sie wusste noch nicht, welche der Frauen sich mit welcher anderen wie gut verstand oder vielleicht gar eine geheime Feindschaft pflegte. Wie schnell es sonst zu einer äußerst prekären Situation kommen konnte, hatte ihr Fadias Angriff an jenem Morgen in Bagdad noch einmal in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Ihr Körper war über und über mit blauen Flecken übersät gewesen, die bei jedem Kamelschritt schmerzten. Und erst, als sie schon fast die Hälfte der Strecke von Bagdad nach Jerusalem hinter sich gebracht hatten, waren das Schwindelgefühl und das Dröhnen im Kopf etwas schwächer geworden.
Was den Geruch von Kameldung anging, hatte Fadia recht behalten. Er war wirklich kaum abzuwaschen – weder vom Körper noch aus den Kleidern. Manchmal glaubte sie jetzt noch, danach zu riechen, aber ihr Vater hatte ihr versichert, dies sei Einbildung, die dem tiefen Schrecken geschuldet war, den dieser Angriff bei ihr verursacht hatte. Manchmal wachte sie jetzt noch mitten in der Nacht auf und glaubte, keine Luft bekommen zu können und dann dauerte es ein paar Augenblicke, ehe sie begriff, dass alles in Ordnung und sie nur dem Entsetzen eines Alptraums erlegen war.
Immerhin hatte Firuz sie seit Bagdad tatsächlich in Ruhe gelassen und nicht noch einmal versucht, sich ihr zu nähern. Ob wirklich der Gestank von Kameldung dafür ausschlaggebend gewesen war, bezweifelte Li jedoch. Eher glaubte sie, dass dies mit einer sehr lautstark geführten Unterhaltung zu tun hatte, die Fadia und Firuz wohlweislich auf Arabisch geführt hatten, sodass Li nur Bruchstücke davon mitbekommen hatte.
Fadia hatte Li daraufhin keines Blickes mehr gewürdigt und auch kein Wort mehr mit ihr gesprochen.