„Du meinst, nicht die Ruhe zu verlieren?“
„Ja.“
„Ich schaffe es nicht“, stöhnte Mara. „Mir zittern die Knie. Und die Hände. Meine Zähne schlagen aufeinander. Ich sterbe noch vor Angst.“
„Thomas wird uns helfen.“ Hauula versuchte, Zuversicht in ihre Stimme zu legen, aber es wollte ihr nicht recht gelingen.
Mara schwieg, aber eine der jungen Frauen antwortete aus der Finsternis des engen Schiffsraumes: „Er kann nichts mehr für uns tun. Er muß froh sein, wenn er selbst überlebt. Sie haben ihn auf die Insel geschafft und peinigen ihn so lange, bis er den Schatz herangeschafft oder die Wahrheit gesteht.“
„Zegú, unser König, ist jetzt auch auf der Insel“, raunte eine andere Frau.
„Was haben die Kerle mit ihm vor?“ wollte die entsetzte Mara wissen. Ihre Augen huschten unablässig hin und her, ihr Blick streifte die Gestalten der Leidensgefährtinnen. Sie waren zehn Mädchen und junge Frauen von der Insel Hawaii. Die französischen Freibeuter hatten sie bewußt von den zehn Männern getrennt, die sie ebenfalls als Faustpfand mitgeschleppt hatten. Die Trennung erhöhte die Furcht der völlig hilflosen Frauen und ließ sie zur Panik anwachsen.
Von der Insel drangen das Grölen und Singen der Piraten herüber.
„Sie feiern“, sagte Hauula. „Sie lassen die Mäuse auf dem Tisch tanzen, wie sie sagen. Sie haben lange kein Vergnügen mehr gehabt. Masot läßt es zu, daß sie sich betrinken. Er weiß, daß er es ihnen nach der Überfahrt und der sinnlosen Suche schuldig ist. Außerdem dürfen sie sich hier, in der Lagune, völlig sicher fühlen.“
„Es ist die Lagune des Teufels“, flüsterte Mara.
„Zegú“, sagte die eine Frau, die vorher schon gesprochen hatte. „Sie werden ihn quälen und sich daran weiden.“
„Nein!“ stieß Mara entsetzt hervor.
„Aber das ist nichts gegen das, was sie uns antun, wenn sie uns auf den Strand holen.“
„Sei still!“ zischte Hauula.
„Hört ihr?“ wisperte eine andere junge Frau. „Sind das nicht Geräusche im Wasser? Das Eintauchen von Paddeln?“
„Sie nennen die Paddel ihrer Boote Riemen“, korrigierte ein Mädchen, das an der dem Schiffsgang zugewandten Raumwand hockte. „Thomas hat es uns beigebracht, wie er uns auch die spanische Sprache und Ausdrücke aus dem Englischen und dem Deutschen gelehrt hat.“
„Das alles ist jetzt nichts mehr wert“, murmelte Mara. „Sie kommen. Es geht zu Ende mit uns. Lebt wohl, Schwestern.“
„Unsinn!“ zischte Hauula wütend. „Ich höre kein Boot und keine Riemen. Das ist doch bloß eine Einbildung!“
„Nein!“ raunte die, die die Laute gehört zu haben glaubte. „Ich schwöre es euch, da nähert sich ein Boot!“
Mara zerrte verzweifelt an den Stricken, die ihre Hände und Füße zusammenhielten. „Wenn wir doch bloß nicht gefesselt wären“, schluchzte sie.
„Dann wäre alles einfach gewesen“, sagte Hauula. „Dann hätten wir uns längst aus diesem Verlies befreit.“
„Still“, flüsterte das Mädchen an der Gangseite des Raumes. „Da ist was – Schritte! Schritte auf dem Gang! Nein, nein, ich täusche mich nicht. Schweigt und hört selbst hin.“
Sofort trat Totenstille ein. Dann konnten sie es alle vernehmen: tastende Schritte näherten sich dem Schott des Gefängnisses. Sie waren heran und verharrten. Gleich darauf begann jemand an der Verriegelung des Schotts herumzuhantieren.
Pele, Pele, feuerspeiende Göttin von Hawaii, steh uns bei, dachte Mara, vernichte diese grausamen Kerle. Sie wollten verrichten, was sie schon die ganze Zeit über mit uns tun wollten, und nur du, nur du ganz allein kannst sie noch zurückhalten!
Mit geschickten Fingern hatte der Mann den schweren Eisenriegel beiseite geschoben. Jetzt legte er seine Hände an die Kante des Holzschotts, zerrte daran – und atmete lächelnd auf, als es leise knarrend in seinen Angeln aufglitt. Der Mann, dessen nackter Oberkörper schweißbedeckt war, schlüpfte durch die Öffnung, kniete sich vor die Mädchen und jungen Frauen hin und legte seinen Zeigefinger gegen die Lippen, als Mara und zwei, drei andere entnervt aufschreien wollten.
„Das darf nicht wahr sein“, flüsterte Hauula völlig entgeistert. „Andai – bist du es wirklich?“
Der junge Polynesier schob sich auf sie zu. „Ja“, gab er genauso leise zurück. „Mir ist die Flucht gelungen. Aber verlieren wir keine weitere Zeit. Ich will euch von euren Fesseln befreien. Die anderen sind schon aus unserem gemeinsamen Verlies, dem Kabelgatt, heraus und suchen nach Waffen.“
„Wie habt ihr das geschafft?“ flüsterte Hauula.
Er hatte kein Messer und mußte mühselig die Knoten ihrer Hand- und Fußfesseln lösen. Mit zusammengepreßten Lippen ging er an die Arbeit. Erst als er es geschafft hatte und die Tauenden schlaff zu Boden fielen, entgegnete er: „In tagelanger Arbeit konnte ich eine Bodenplanke lösen. Daran wetzte ich zunächst meine Stricke kaputt und half dann den neun anderen Brüdern, sich der Fesseln zu entledigen. Zu dritt vergrößerten wir die Lücken in den Planken und gelangten so in den unter dem Kabelgatt liegenden Schiffsraum. Von dort aus schlichen wir wieder ein Deck höher, öffneten von außen das Schott unseres Gefängnisses, und dann machte ich mich auf den Weg zu euch. Wenn die anderen Waffen finden, bringen sie bestimmt auch uns gleich ein paar Messer und Pistolen.“
Hauula küßte Andai auf die Stirn und auf die Wangen, dann half sie mit, die Stammesschwestern von ihren Fesseln zu befreien. Mara erlösten sie als erste von den dicken, in die Haut schneidenden Tampen, und das Mädchen brach daraufhin in Tränen aus.
„Hör auf“, flüsterte Hauula ihr zu. „Hilf mir lieber.“
Mara wischte sich die Tränen ab und schickte sich an, ihrer Freundin Unterstützung zu leisten. Plötzlich aber erstarrte sie, denn zwei andere männliche Gestalten waren in dem halboffenen Schott aufgetaucht. Eine furchtbare Eingebung gaukelte Mara vor, die Wachtposten auf dem Schiff hätten alles bemerkt und wären nun erschienen, um den Ausbruch der Gefangenen im Keim zu ersticken.
Sie preßte die Fäuste gegen den Mund und gab einen keuchenden Laut des Entsetzens von sich.
Dann aber lockerte sich ihre Haltung wieder, denn sie erkannte trotz der Dunkelheit, daß es sich um zwei Stammesbrüder handelte. Sie bückten sich und glitten heran, um aktiv an dem Befreiungsunternehmen mitzuwirken.
„Numil und Moho“, flüsterte Hauula begeistert. „Pele sei Dank! Wenn Zegú und Thomas nur wüßten, daß es euch geglückt ist …“
„Warte“, raunte Andai ihr zu. „Wir haben erst den Anfang geschafft. He, ihr zwei, habt ihr die Waffen?“
„Nein“, erwiderte Numil.
„Der Weg zur Waffenkammer im Achterdeck ist versperrt“, flüsterte Moho. „In dem einen Raum davor brennt Licht. Dort sitzen mehrere Kerle beisammen und trinken und fluchen.“
„Die Wachablösung in der Mannschaftsmesse“, murmelte Andai. „Es sind mindestens vier Mann, schätze ich. Die sind mit den Pistolen schnell bei der Hand, außerdem haben sie Musketen, Messer und Säbel. Ehe wir sie überwältigen können, haben sie die meisten von uns getötet. Nein, auf diesem Weg können wir nicht in die Waffenkammer.“
„Dann bleibt nur der Weg über die Kuhl“, sagte Hauula.
„Oben stehen auch vier Männer“, gab Moho zu bedenken. „Die Ankerwache.“
„Vielleicht ist die leichter abzulenken“, wisperte Hauula.
Andai schüttelte den Kopf. „Unmöglich, wie denn wohl? Wir können nur auf einen Zufall hoffen, anderenfalls sitzen wir hier unten