Ben Brighton trat auf den Seewolf zu. Mit ihm waren Smoky, Ferris Tucker, Blacky und Sam Roskill an Land gegangen. Sie hatten ihre Steinschloßpistolen gezogen und hielten eine kleine Schar von Gestalten im Schach, denen der Schreck noch wie lesbare Lettern im Gesicht stand.
Fünf dunkelhäutige, sehnige Burschen waren es, kleiner als die Männer von der „Isabella“. Die schwarzen Haare fielen den Fremden bis auf die schmalen Schultern. Waffen hatten sie nicht mehr.
„Die Kerle wollten an Land türmen, um Hilfe zu holen“, erklärte Ben Brighton, „soviel habe ich schon herausgekriegt. Einer von ihnen spricht so was Ähnliches wie Englisch. Ein Filipino.“
„Piraten?“ fragte Hasard, während er die sehnigen Burschen musterte.
Ben lächelte.
„Das haben sie zwar nicht zugegeben, aber an der Art, wie sie es nicht zugegeben haben, konnte man erkennen, daß sie wirklich Piraten sind. Von der miesesten Sorte.“ Ben warf einen Blick zu Moana und atmete auf. „Was ist mit dem Inder?“
Hasard berichtete in knappen Worten. Mitleid konnte niemand mehr empfinden.
„Wer ist der Filipino?“ erkundigte sich der Seewolf schließlich.
Ben Brighton deutete auf einen der Piraten. Sein linkes Auge war geschlossen. Eine furchterregende Narbe umgab die Stelle, an der sich einmal dieses Auge befunden hatte.
Ferris Tucker gab ihm einen Wink.
„Beweg dich, du Stint! Unser Kapitän will mit dir reden!“
Der Filipino begriff. Und er gehorchte. Was ein Stint war, wußte er allerdings mit Sicherheit nicht. Zwei Schritte vor Hasard blieb er stehen. Er mußte zu dem Seewolf aufblikken.
„Wo seid ihr zu Hause?“ fragte Hasard. „Kannst du verstehen, was ich sage?“
„Aye, Mann, verstehe.“ Der Filipino sprach ein gutturales Kauderwelsch, das für die Seewölfe schwerer zu verstehen war als deren Englisch für ihn. „Kommen von Mariana-Inseln. Was gehört zu Mikronesien. Ehrbare Kaufleute wir sind, Mann. War Unrecht gegen uns.“
„Klar, Mann.“ Der Seewolf grinste. „Ich bin ja gern bereit, das Unrecht wiedergutzumachen – gegen eine kleine Gegenleistung von dir.“
„Hä?“
„Paß auf.“ Hasard: beugte sich zu ihm nieder und blickte ihm lächelnd in das martialisch aussehende Gesicht. „Du erzählst mir ein bißchen über Charangu. Dafür kriegt ihr von uns bei Tagesanbruch Unterstützung, damit ihr euren Kahn zusammenflicken und verschwinden könnt. Bedingung ist allerdings, daß ihr euch auf dieser Insel nie wieder blicken laßt. Wir werden das regelmäßig kontrollieren, denn wir sind im Auftrag der britischen Krone auf Hawaii stationiert.“
Hasard bemühte sich, seine Männer nicht anzusehen. Denn sie hätten zumindest ein Grinsen nicht verhindern können.
„Ist Trick das?“ fragte der Dunkelhäutige mißtrauisch, doch mit einem leuchtenden Auge.
„Kein Trick.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Wir haben auf Kahoolawe erledigt, was zu erledigen war. Charangu ist tot.“ Auch dies war wichtig, denn ohne den Inder gab es für die Piraten keine Verbindung mehr zu der Insel. Und Hasard ging es vor allem darum, daß die Menschen auf diesem friedlichen Eiland nicht noch einmal von schurkischen Kerlen wie Charangu heimgesucht wurden. Deshalb war es notwendig, daß die Piraten verschwanden und sich nicht als Schiffbrüchige auf der Insel einnisteten.
Der Filipino zog die Augenbraue hoch, die ihm noch geblieben war.
„Will ich Hand drauf.“ Er streckte fordernd die Rechte aus.
Hasard tat ihm den Gefallen, und der Drahtige verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als ihm der Seewolf die Hand drückte.
„Wie ist Charangu auf Kahoolawe gelandet?“ fragte Hasard.
Der andere grinste.
„Sache einfach, Mann. War Charangu Bandit böses in Mikronesien. War gekommen aus Indien. Hat Streit gemacht mit Chef unseres. Hat Krieg gegeben. Hat Chef unseres gewonnen. Und haben Charangu auf Insel hier geliefert – für – äh – Verbong … äh – Verbun …“
„Verbannung“, half Hasard.
„Verbannung“, sagte der Filipino. „Hat Charangu, schlaues Hund, Affen mitgenommen und sich König gemacht. War Chef unseres egal. Hauptsache, Charangu erfüllt Orders.“
„Was für Orders?“
Der Filipino grinste. Für einen Moment stierte er Moana mit seinem Auge an. Dann blickte er wieder zu dem Seewolf auf.
„Mädchen und Perlen, Mann. Hat Chef unseres Perlen an Kaufleute geliefert. Und Mädchen auch an Kaufleute. China, verstehen? Schanghai – Bordelle …“
Für Hasard und seine Männer war es fast keine Überraschung mehr. Etwas Derartiges hatten sie erwartet.
„In Ordnung“, sagte Hasard, „trollt euch jetzt zurück an Bord. Aber wagt nicht, noch einmal an Land zu gehen. Ihr werdet beobachtet. Morgen früh, bei Sonnenaufgang, wird unser Schiffszimmermann euch helfen, euren Kahn so weit zusammenzuflikken, daß ihr die Mariana-Inseln erreicht.“
Für die Menschen auf Kahoolawe war es selbstverständlich, daß den Seewölfen zu Ehren ein großes Abschiedsfest gegeben wurde.
Nachdem die Piraten gegen Mittag mit Behelfssegeln davongeschlichen waren, trafen sich die Dorfbewohner und die gesamte Crew der „Isabella“ auf dem großen Platz inmitten des Palmenwaldes.
Und diesmal wurde es ein noch rauschenderes Fest, denn mit Charangu war eine drückende Last von den Polynesiern genommen worden.
Dan O’Flynn hatte es geschafft, Moana in Zeichensprache alles zu erklären – auch, daß es keinen Ort auf der Insel gab, der tabu war, und Affen niemals Götter sein konnten.
Das Schicksal der verschwundenen Mädchen stimmte die Polynesier anfangs nachdenklich. Doch schließlich fanden sie – ihrem Naturell entsprechend – auch daran eine positive Seite: Immerhin, so erklärte Moana nach langem Palaver per Zeichensprache, seien die Mädchen nicht tot. Nun konnte man auf eine gütige Fügung hoffen, daß sie vielleicht eines Tages auf die Insel zurückkehren würden.
Nach anfänglicher Scheu begannen sie schließlich auch über die Gibbons zu lachen. Doch sie rächten sich nicht etwa an den unschuldigen Tieren. Vielmehr wurden die Affen fortan als eine Art Haustiere und Spielgefährten für die Kinder betrachtet.
Noch am Abend desselben Tages blies Hasard zum Aufbruch.
1.
Tückisch glimmende Augen zwischen den Blättern des Inseldschungels, schmatzende und blubbernde und andere abscheuliche Laute, Krallenhände, die vorsichtig die Zweige des Dickichts teilten – alles das schien Thomas Federmann plötzlich um sich herum wahrzunehmen.
Das Grauen war erschienen, um ihn heimzusuchen und einen qualvollen Tod sterben zu lassen hier, im Paradies auf Erden.
Die Dämonen der Südsee, die Mächte der Finsternis – plötzlich schienen sie überall zu sein. Sie hatten ihn umzingelt, schoben sich von allen Seiten auf ihn zu, krochen aus den Büschen hervor, griffen mit ihren feuchten, kalten, schwartigen Pfoten nach ihm.
Ein würgendes Gefühl stieg in seiner Kehle auf. Die Sinne drohten ihm zu schwinden. Ihm wurde übel und grenzenlos schwach zumute. Der Urwald schien sich mit mahlenden und singenden Geräuschen um ihn herum zu drehen, schneller, immer schneller.
Die Kreaturen hatten ihn umzingelt und duckten sich lauernd. Sie entblößten spitze Zähne, fuchtelten, keiften, heulten – und sprangen ihn ganz unvermittelt an.