Gespannt beobachteten Ben Brighton und Siri-Tong den Zweimaster durchs Spektiv.
Haarscharf vor dem Bug riß Al Conroys Kugel eine hohe, weißschäumende Fontäne aus dem Wasser. Wieder hatte der Stückmeister der „Isabella“ bewiesen, welch ein Könner er auf seinem Gebiet war. Die anderen klopften ihm begeistert auf die Schulter.
Doch wenn sie geglaubt hatten, daß die Crew des Zweimasters zur Einsicht gebracht war, so hatten sie sich getäuscht.
Drüben wurden die Segel gesetzt, gleichzeitig blitzten von neuem Mündungsfeuer auf. Jetzt waren sie offenbar entschlossen, sich dem offenen Kampf zu stellen.
Ben Brighton dachte nicht daran, sie Fahrt gewinnen zu lassen.
Er würde den Zweimaster auf der Stelle festnageln.
9.
Ein unterdrückter Schrei war plötzlich zu hören.
Augenblicklich verharrte der Seewolf, denn seine und die Schritte seiner Männer hallten zwischen den Felswänden des Passes überlaut. Batuti, Matt und Jeff brachten ihn fast zu Fall, als sie gegen Hasards breiten Rücken prallten. In der Tat war es hier so dunkel, daß sie kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnten.
„Still!“ zischte der Seewolf.
Und jetzt hörten sie es deutlich.
Unterdrückte Laute. Keuchen. Scharrende Schritte. Ein Kampf.
Hasard stürmte weiter, ohne noch Zeit für einen Befehl zu verlieren. Die anderen folgten ihm. Er wußte es. Denn sie hatten genauso begriffen wie er.
Als sie das schwarze Plateau erreichten, traf sie der Anblick wie ein Schock.
Eine wilde Meute hatte Dan O’Flynn umzingelt. Messer blitzten. Im Mondlicht waren die Angreifer wie Schatten. Irgendwo lag eine Gestalt am Boden, irgendwo hinter dem Ring, den sie um Dan geschlossen hatten. Und er kämpfte wie ein Löwe – mit jener Entschlossenheit, die nur ein Mann an den Tag legt, der seinen sicheren Tod vor Augen hat.
Der Seewolf stürmte auf die Meute der Angreifer los.
Batuti, Matt Davies und Jeff Bowie schwärmten aus und hetzten mit langen Sätzen voran.
Hasard und der Gambianeger zogen die Entermesser.
Matt und Jeff brauchten keine Waffen. Die spitzgeschliffenen Haken ihrer Armprothesen funkelten.
„Dan!“ brüllte der Seewolf, als sie noch zwanzig Schritte entfernt waren.
Die Polynesier wirbelten erschrokken herum. Zu sehr hatten sie sich auf den ungleichen Kampf konzentriert.
Dan O’Flynn, von den Spuren des Kampfes deutlich gezeichnet, stieß einen Freudenschrei aus. Und in blitzschneller Reaktion streckte er einen der Gegner nieder, der ihm in der Verwirrung zu nahe geraten war.
„Ar – we – nack!“ brüllte der Seewolf, und die anderen stimmten mit ein.
„Ar – we – nack!“ Der Kampfruf der „Isabella“-Crew hallte wie ein Brausen über das Plateau.
Die Polynesier erschauerten. Doch es gab kein Zurück für sie. In verzweifelter Gegenwehr stellten sie sich zum Kampf. Allein der Anblick der Männer wirkte demoralisierend auf sie. Dieser schwarzhaarige Riese mit den eisklaren hellen Augen, der herkulische Neger und die beiden Männer mit den furchterregenden Stahlhaken anstelle von Händen – genug, um Charangus Handlanger ins Entsetzen zu treiben.
Hasard und seine Männer zerschlugen den messerbewehrten Kreis um Dan O’Flynn beinahe mühelos. Trotz aller Wut bemühten sie sich, den Polynesiern gegenüber fair zu bleiben und sie nicht für das bezahlen zu lassen, was Charangu an ihnen verbrochen hatte.
Hasard und Batuti schlugen mit den platten Seiten der Entermesser zu, und Matt Davies und Jeff Bowie benutzten ihre Stahlhaken mehr als Drohmittel, während sie die Gegner mit ihren gesunden Fäusten niederstreckten.
Innerhalb weniger Minuten war der Kampf entschieden. Charangus Männer lagen in schöner Gemeinsamkeit langgestreckt auf dem schwarzen Gestein. Alle, hatten sie Blessuren davongetragen, doch sie waren nicht so schwer verletzt, daß sie es nicht überstehen würden.
„Himmel“, sagte Dan O’Flynn keuchend, „ich habe schon meinen eigenen Untergang vor Augen gesehen.“
„Dich kann man nie allein lassen“, sagte Batuti dröhnend, und deutliche Erleichterung klang aus seiner Stimme. Dann schlug er ihm mit der flachen Hand auf die Schulter, daß Dan in die Knie ging.
Rasch untersuchte Hasard die Schnittwunden, die Dan an den Armen davongetragen hatte. Es waren keine tiefen Wunden.
„Wo ist das Mädchen?“ fragte der Seewolf.
Dan deutete mit einer Kopfbewegung zum Kegelstumpf des Vulkans.
„Die Kerle kamen von dort.“
„Sehen wir nach“, sagte Hasard, „reicht es, wenn wir dich später verarzten?“
„Klar“, versicherte Dan grimmig.
Als sie losstürmten, klang rollender Geschützdonner von der See herauf.
Noch versperrte der Berg ihnen die Sicht. Aber Hasard und seine Männer konnten sich in etwa vorstellen, was sich an der Ostseite der Insel abspielte – an diesem Teil von Kahoolawe, der für die Polynesier offenbar tabu gewesen war.
Dan wies Hasard und den anderen die Richtung. Er hatte sich die Stelle eingeprägt, an der Moanas Entführer aufgetaucht waren, um ihn zu töten.
Als sie den Fuß des Vulkankegels erreichten, hatte sich der Geschützdonner verstärkt. Deutlich erkannten sie den sonoren Klang der Siebzehn-Pfünder-Culverinen, die in fast regelmäßigen Abständen abgefeuert wurden. Die anderen Geschütze klangen heller.
Das Gefecht trieb Hasard und seine Männer zur Eile an. In ihnen brannte die Ungewißheit darüber, was dort unten vor der Insel geschah.
Der Aufstieg zum höchsten Punkt des Vulkans gestaltete sich fast mühelos. Die Steigung war nur mäßig, denn ein natürlicher Grat im Fels führte schräg nach oben.
Schon wichen die angrenzenden Bergformationen zurück, und sie konnten bereits die weite Wasserfläche der See erkennen. Noch war ihnen aber der Blick auf die östliche Lagune verwehrt.
Das Donnern der Geschütze wurde spärlicher.
Nur noch wenige Yards trennten den Seewolf und seine Männer vom Rand des Kraters.
Eine schneidende Stimme stoppte ihre Schritte jäh ab.
„Bleibt, wo ihr seid, Engländer! Oder sie stirbt auf der Stelle!“
Hasard und den anderen gefror das Blut in den Adern.
Charangu war hinter einem etwa doppelt mannshohen Felsturm hervorgetreten, der wie ein überdimensionaler Finger über den Kraterrand hinausragte. Vor dem Felsturm, der ein erstklassiges Orientierungszeichen sein konnte, weitete sich der Kraterrand zu einer kleinen Felsplattform von kaum mehr als zehn Quadratyards.
Der Inder hielt das Mädchen in eisenhartem Griff. An seinem rechten Arm, den er um ihren Hals geschlungen hatte, schimmerte das matte Metall des Eisenreifs. In der Linken hielt er seinen Krummdolch, dessen rasiermesserscharfe Spitze auf Moanas Herzgegend gerichtet war.
Trotz des Halbdunkels sahen Hasard und die anderen, daß das Mädchen kreidebleich war. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Männern entgegen, und in diesen Augen las Hasard die Todesangst, die sie fast um den Verstand brachte.
Die Entfernung war lächerlich gering. Höchstens drei oder vier Schritte.
„Verdammter Mist!“ flüsterte Matt Davies kaum hörbar. „Wenn ich jetzt könnte, würde ich dem Kerl den Hals umdrehen!“
Das Krachen der Geschütze versiegte mehr und mehr. Stille kündigte sich an.
Hasard