Die Ostseite der Insel schob sich langsam ins Blickfeld.
Unablässig beobachtete Ben Brighton die Lagune und den Strand durch das Spektiv.
An Bord war es wieder still geworden. Angespannt starrten die Männer auf die See hinaus. Silberne Fäden, vom Mond- und Sternenlicht hervorgerufen, schienen sich im schwachen Wellengang zu bewegen.
„Deck!“ ertönte plötzlich Bills Stimme aus dem Großmars. „Zweimaster Backbord voraus vor Anker! Entfernung drei bis vier Kabellängen!“ Diesmal vergaß der Moses sogar die Vokabel „Wasserfahrzeug“, auf die er zuvor so stolz gewesen war.
Ben Brighton hatte Bills Entdekkung im selben Moment geortet. Durch die hervorragende Optik des Spektivs erschien das Schiff als scharfgezeichneter Schattenriß.
Es zeigte keine Flagge. Auch waren alle Lampen an Bord gelöscht. Einwandfrei zu erkennen war, daß es sich um einen Rahsegler handelte. Eine merkwürdige Konstruktion, die mit dem europäischen Standard des Schiffbaues wenig gemein hatte. Die Aufbauten waren flach, der Rumpf aber eher plump als schnittig. Der Konstrukteur schien sich nicht ganz im klaren darüber gewesen zu sein, ob er höherer Tonnage oder größerer Geschwindigkeit den Vorzug geben sollte. Auf dem Achterdeck befand sich ein kastenförmiges Ding. Es sah aus, als ob sie kurzerhand eine Hütte aus einem Eingeborenendorf gepflückt und mit dem Hebebaum an Bord gehievt hatten. Das war anscheinend die Unterkunft für Kapitän und Mannschaften gleichermaßen.
Ben Brighton schätzte das Schiff auf knapp hundert Tonnen. Er ließ das Spektiv sinken und gab Befehl, Großsegel und Focksegel zu bergen. Kurz darauf auch das Blindesegel.
Mit katzenhafter Gewandtheit enterten die Männer in den Wanten auf. Knappe Kommandos wurden laut, und jetzt beschränkte sich auch Edwin Carberry auf das Notwendige.
„Pete, fünf Strich Steuerbord“, befahl Ben Brighton.
„Aye, aye, fünf Strich Steuerbord“, wiederholte Pete Ballie und legte Ruder.
„Anbrassen, ihr Heringe!“ brüllte der Profos auf dem Hauptdeck. Die Männer bewegten sich geschickt und blitzschnell. Carberrys Gebrüll störte sie dabei nicht. Jeder Handgriff saß, und jeder Mann wußte selbst in der größten Wuhling haargenau, wo er zupacken mußte. Auch bei Dunkelheit wie jetzt.
Die „Isabella“ gewann mehr Abstand vom Riff, glitt aber noch immer in spitzem Winkel auf das ankernde fremde Schiff zu.
Siri-Tong hatte ebenfalls ein Spektiv ans Auge gesetzt.
„Was für ein Landsmann könnte das sein?“ fragte Ben Brighton, der neben ihr an die Backbordseite der Balustrade getreten war.
„Kein Chinese“, erwiderte die Rote Korsarin. „Ich vermute, daß es sich um einen polynesischen Segler handelt. Im Gebiet der mikronesischen Inseln soll es eine Menge Halunken zur See geben, die plündernd und brandschatzend von Insel zu Insel ziehen. Vielleicht ist es ein solches Schiff, das sich bis hierher in die Hawaii-Inselgruppe vorgewagt hat. Womit bewiesen wäre, daß der merkwürdige Inder wüst gelogen hat.“
„Dieser Charangu?“ sagte Ben Brighton, der über die Zusammenhänge noch nicht vollends auf dem laufenden war.
Siri-Tong nickte. „Er hat behauptet, es gäbe von Kahoolawe keine Kontakte zur Außenwelt und die jungen Mädchen und die Perlenausbeute würden den Göttern geopfert.“
„Mhm“, entgegnete der Erste Offizier, „was die Piraten – wenn es welche sind – mit den Perlen anfangen, ist mir klar. Aber mit den Mädchen?“
Die Rote Korsarin ließ das Spektiv sinken. „Ben! Tust du nur so ahnungslos, oder bist du es wirklich?“
Er zuckte mit den Schultern und wiegte verlegen den Kopf. In Gegenwart einer Lady mochte er sich nicht gern darüber äußern, was seine Vermutungen waren.
Siri-Tong hob das Spektiv von neuem.
„Ben!“ rief sie halblaut, ohne den Kieker abzusetzen. „Bei denen rührt sich etwas an Bord! Sie versuchen, sich dabei zu verstecken, aber ihr Schanzkleid ist eine Idee zu flach!“
Ben Brighton beobachtete das Schiff genauer, und dank der präzise geschliffenen Optik sah auch er es jetzt. Nur vereinzelt waren die gekrümmten Rücken von hin und her huschenden Männern zu erkennen, die sich hinter dem niedrigen Schanzkleid bewegten.
Und noch eins sah Ben Brighton: Die Geschütze an der Backbordseite des Zweimasters standen in offenen Pforten. Es gab keine Luken. Ben zählte insgesamt vier Rohrmündungen. Neunpfünder bestenfalls. Geradezu lächerlich, verglichen mit der Bestückung der „Isabella“, die über je acht Siebzehn-Pfünder-Culverinen an Backbord und Steuerbord verfügte.
Ben faßte einen schnellen Entschluß. Nach der Kursänderung betrug die Entfernung noch etwa drei Kabellängen. Die kleinen Geschütze des Zweimasters konnten auf diese Distanz keinen großen Schaden anrichten, zumal sie in der Dunkelheit mit dem Zielen beträchtliche Schwierigkeiten haben würden.
Daß die Kerle auf dem Zweimaster sich auf ein Gefecht vorbereiteten, schien indessen offensichtlich.
Ben Brighton ließ beidrehen und das restliche Tuch aufgeien. Die Galeone verlor rasch an Fahrt und zeigte dem unbeleuchteten fremden Segler nun die Backbord-Breitseite.
„Alle Mann auf Gefechtsstation!“ befahl Ben halblaut. „Backbordgeschütze klar zum Gefecht! Und schafft mir die Jungen unter Deck!“ Er lächelte bei dem Gedanken, welche Enttäuschung die Söhne des Seewolfs jetzt wohl empfanden.
„Sie lichten den Anker“, meldete Siri-Tong, die nach wie vor den Zweimaster durch das Spektiv beobachtete. „Gleich werden sie Segel setzen und versuchen zu verschwinden. Auf alle Fälle müssen sie vor Schreck den Verstand verloren haben, wenn sie es auf eine Auseinandersetzung mit uns ankommen lassen wollen.“
„Jemand, dem der Schreck in die Glieder fährt, tut oftmals etwas, was er normalerweise nicht einmal im Traum tun würde“, sagte Hasards Stellvertreter.
An Deck arbeiteten die Männer zügig, doch ohne Hast. Die Geschützmannschaften klarierten die Culverinen an Backbord und justierten die Geschütze, nachdem sie die überlangen Rohre mit den von Al Conroy berechneten Pulvermengen und den Siebzehn-Pfünder-Kugeln geladen hatten. Al verteilte die Lunten an die einzelnen Geschütze. Aus der Kombüse hatte der Kutscher unterdessen ein Kohlenbecken mit Glut zum Zünden der Lunten herangeschafft. Die anderen stellten Wassereimer an Deck auf und streuten Sand auf den Planken aus.
„Schiff klar zum Gefecht!“ meldete Al Conroy schließlich. Er selbst hatte hinter der vordersten Culverine an Backbord Stellung bezogen. Die Taktik, die Ben Brighton beabsichtigte, war ihm klar. Ben war auf Fairneß bedacht und wollte einem ankernden Schiff gegenüber nicht den Vorteil größerer Beweglichkeit ausspielen. Und überdies war die jetzige Position der „Isabella“ für den fremden Zweimaster ein eindeutiges Warnsignal. Wenn der Fremde es unter diesen Umständen auf einen Kampf ankommen ließ, mußte er entweder nicht ganz bei Trost sein oder tatsächlich die verrückte Hoffnung hegen, noch das Weite suchen zu können.
Al Conroy hatte dies kaum zu Ende gedacht, als es drüben an der Breitseite des Zweimasters aufblitzte.
Ein Orgeln war zu hören, und im nächsten Atemzug rollte der Geschützdonner herüber.
Weit vor der Galeone klatschte die Kugel wie ein schlapper Beutel ins Wasser.
Al Conroy konnte nur den Kopf schütteln.
Abermals ein Mündungsblitz und wieder das gleiche Ergebnis. Spätestens jetzt mußten die Kerle begriffen haben, daß sie keine Chance hatten.
„Stückmeister!“ rief Ben Brighton.
„Sir?“
„Schick ihm einen Gruß vor den Bug, damit er klarere Gedanken kriegt!“
„Aye, aye, Sir!“ Al Conroy sprang auf, justierte das Rohr seiner Culverine und zündete die Lunte.
Das Zündpulver begann