Aber der Seewolf war selbst noch zu sehr in Bedrängnis. Er schaffte es noch nicht, der Roten Korsarin zu Hilfe zu eilen. Ein Messer blitzte haarscharf vor ihm auf. Hasard wich aus, unterlief den Angriff reaktionsschnell und konterte mit blitzartiger Gegenwehr. Der Angreifer schrie erschrocken auf, als er plötzlich von den Fäusten des Seewolfs emporgehoben wurde. Das Messer wirbelte durch die Luft und fiel irgendwo zu Boden – gefolgt von seinem Eigentümer, der hart aufschlug.
Hasard erhielt kaum Zeit zum Luftholen. Arme schlangen sich plötzlich von hinten um seinen Hals und drückten mit unerwarteter Kraft zu. Ein zweiter Angreifer schnellte von vorn auf ihn los. Der erhobene Knüppel wurde vor dem helleren Nachthimmel erkennbar. Hasard spannte seine Muskeln und mobilisierte alle Kraftreserven. Seine Fäuste ruckten empor und bekamen die Oberarme des Mannes zu fassen, der ihm im Nacken hing. Und beiden Angreifern wurde auf schmerzliche Weise klar, daß sie sich in der Muskelkraft des Seewolfs mächtig verschätzt hatten.
Hasard ging in die Knie und riß den Mann, der seine Kehle zudrückte, mit einem blitzartigen Ruck nach vorn. Der Polynesier stieß einen Schrei aus, als er fast waagerecht durch die Luft segelte. Und im nächsten Sekundenbruchteil verstummte er. Denn der Knüppel, der eigentlich dem Seewolf zugedacht war, traf ihn. Dann ging auch der Knüppelschwinger zu Boden, als er von dem Anprall seines Gefährten überrascht wurde.
Der Seewolf kreiselte herum. Siri-Tong hatte immer noch drei Gegner am Hals. Aber die Rote Korsarin hegte die gleichen Gedanken wie Hasard. Sie wollte diese Männer nicht töten – diese Menschen, die von Charangu zu willenlosen Werkzeugen erniedrigt worden waren.
Hasard wollte sich mit dem Burschen befassen, der sich soeben unter dem Körper des Bewußtlosen hervorschälte. Doch der Mann dachte nicht mehr an einen Angriff. In panischer Hast warf er sich herum und war im nächsten Moment in der Dunkelheit des Palmenwaldes verschwunden.
Unterdrücktes Keuchen und das Scharren von Schritten waren nach wie vor zu hören. Siri-Tong wehrte ihre zwei verbliebenen Gegner mit dem Knüppel ab, den sie als Barriere gegen die immer wieder zustoßenden Messer benutzte.
Der Seewolf war mit einem Satz bei ihr, und ehe die beiden Burschen begriffen, was ihnen blühte, hatte er sie im Nacken gepackt. Als er sie mit den Köpfen zusammenstieß, versanken sie augenblicklich in tiefen Schlaf.
„Meinst du, ich hätte das nicht selbst geschafft?“ sagte Siri-Tong, die nur ein wenig außer Atem geraten war. Ihre Augen sprühten Funken.
Hasard wollte antworten, doch ein Rascheln war plötzlich hinter seinem Rücken zu hören. Er wirbelte herum. Dann mußte er lächeln.
Ein Schatten glitt auf ihn zu, hangelte an seinem Arm empor und hockte im nächsten Moment auf seiner Schulter.
„Allmählich findet er Gefallen daran.“ Die Rote Korsarin lachte. „Paß auf, du wirst ihn bald nicht mehr los!“
„Diesmal hat er sich den Ehrenplatz redlich verdient“, entgegnete Hasard, „ich wüßte nicht, wo wir ohne ihn wären.“
Arwenack keckerte fröhlich, als hätte er die Worte des Seewolfs verstanden.
Hasard wußte indessen, daß mit dem Überfall die Geschehnisse dieser Nacht keineswegs ausgestanden waren. Er hatte das sichere Gefühl, daß es jetzt erst richtig losging.
Dan O’Flynn warf sich im Schlaf hin und her – von wirren Träumen geschüttelt, die wie eine Vorahnung aus seinem Unterbewußtsein auf ihn einstürmten. Die Unbefangenheit und Geradlinigkeit der Polynesier hatte es ihm erlaubt, für die Nacht eine Hütte mit Moana zu teilen.
Etwas fauchte an seinem Gesicht vorbei. Ein harter Schlag ließ den Boden unter seinem Kopf erbeben.
Dan war schlagartig hellwach und zuckte hoch. Eine Faust traf seinen Brustkasten und schleuderte ihn zurück. Er sah den Knüppel, der ihn um Haaresbreite verfehlt hatte. In der Dunkelheit der Hütte hörte er nur den hastigen Atem der Männer. Wie viele es waren, vermochte er beim besten Willen nicht abzuschätzen.
Geistesgegenwärtig griff er nach dem Knüppel, bevor dessen Besitzer ihn hochreißen konnte. Wieder traf ihn ein Faustschlag, doch Dan ließ nicht locker. Er zog mit einem kraftvollen Ruck. Der Mann, der den Knüppel hielt, fiel auf ihn und drängte ungewollt den anderen zur Seite, der ihn mit Fausthieben außer Gefecht zu setzen suchte.
Plötzlich ein leiser, erstickter Schrei. Dann war es sofort wieder still.
Es traf Dan bis ins Mark, denn er begriff augenblicklich, was geschah.
„Moana!“ keuchte er und versuchte gleichzeitig, die Last von seinem Körper zu wälzen.
Aber das Mädchen antwortete nicht. Hatten die Kerle sie schon umgebracht? Oder vielleicht nur bewußtlos geschlagen? Dans Nerven begannen zu rebellieren. Endlich gelang es ihm, den Mann zur Seite zu schleudern, der verzweifelt nach seinem Knüppel rang.
Doch sofort waren wieder die anderen zur Stelle, die Dan in der Dunkelheit nicht erkennen konnte.
Die Übermacht war zu groß. Mit geballtem Ansturm brachten sie Dan O’Flynn zu Fall, noch bevor er vollends auf die Beine gelangen konnte. Ein harter Schlag traf ihn. Er sank zurück und kämpfte verzweifelt gegen die Ohnmacht an, die in ihm aufzuwallen drohte.
Ein scharfer, gezischter Befehl ertönte.
Die Angreifer wandten sich ab und schienen es eilig zu haben. Ihre Schritte entfernten sich rasch.
Dan wandte alle Willenskraft auf, die in ihm steckte. Und mit der Zähigkeit seines jungen, gestählten Körpers gelang es ihm, die Bewußtlosigkeit zu bezwingen. Zwar brauchte er endlos lange, wie es ihm erschien, die Benommenheit abzuschütteln, doch schließlich schaffte er es, sich aufzurappeln. Schmerzen hämmerten in seinem Kopf. Er schwankte bedrohlich. Aber er blieb auf den Beinen. Sich zu bücken, riskierte er nicht. Mit den Füßen suchte er die Stelle ab, an der Moana geschlafen hatte.
Die Gewißheit traf ihn wie ein erneuter, imaginärer Hieb.
Die heimtückischen Kerle hatten das Mädchen entführt.
Dan stürmte ins Freie. Die Hütte stand am Rand des Dorfplatzes. Alles war ruhig. Niemand schien den Zwischenfall bemerkt zu haben. Wie gehetzt warf er den Kopf herum und spähte angestrengt nach allen Seiten.
Plötzlich waren Schritte zu hören. Hatten sich die Kerle bis eben versteckt? Suchten sie erst jetzt das Weite? Dan dachte keine Sekunde lang darüber nach.
Er war sicher, schattenhafte Bewegungen zwischen den lichten Stämmen der Palmen zu erkennen. Der hellere Nachthimmel, vor dem sich die Bäume abzeichneten, ermöglichte dies. Die Entführer flohen zur Ostseite der Insel. Dan sah es jetzt deutlich, und seine scharfen Augen hatten ihn noch nie im Stich gelassen.
„Ar – we – nack!“ brüllte er, während er schon loslief. „Ar – we – nack!“ Der alte Schlachtruf der Seewölfe hallte weit durch die Stille der Nacht.
Dan erreichte die Baumreihen.
„Ar – we – nack!“ schrie er wieder. „Nach Osten! Nach Osten!“
Hasard und Siri-Tong hörten es, als sie zum Zentrum des Dorfes eilten. Sie erkannten die Stimme Dan O’Flynns sofort.
Innerhalb von wenigen Sekunden wurde es lebendig. Von allen Seiten stürmten die Männer der „Isabella“ herbei. Gary Andrews hatte eine Fackel angezündet. Der blakende Feuerschein erhellte den Dorfplatz nur spärlich. Die Polynesier, die aus dem Schlaf geweckt worden waren, verharrten zögernd in der Nähe ihrer Hütten.
Die Männer versammelten sich um Hasard und Siri-Tong. Old Donegal Daniel O’Flynn tauchte als letzter auf.
„Habt ihr es gehört?“ rief er aufgeregt. „Nach Osten, hat er geschrien, nach Osten!“
„Ich weiß“, entgegnete der Seewolf, „wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir Zeugen einer Riesenschweinerei. Batuti, Matt und Jeff, ihr bleibt bei mir.“
„Aye, aye, Sir“, antworteten