Hasard nickte. „Ich weiß Ihre Gastfreundschaft zu schätzen, Charangu. Leider können wir uns aber nur einen kurzen Aufenthalt leisten.“
Er bemerkte ein schwaches Aufleuchten in den Augen des Inders. War er erfreut? Erleichtert darüber, daß die Seewölfe womöglich bald wieder verschwinden würden? Hasard bewahrte diese Vermutung in seinem Bewußtsein.
„Nun“, entgegnete der Inder und verlieh seiner Stimme ein leises Bedauern, „ich hoffe doch, daß Sie und Ihre Männer uns wenigstens für diesen Tag die Ehre Ihrer Anwesenheit schenken werden.“
„Einige Stunden“, sagte Hasard, „das ließe sich einrichten.“
„Wollen Sie dann nicht auch Ihre übrigen Männer vom Schiff rufen? Wir werden ein großes Fest veranstalten. Denn Gäste gibt es nie in unserem Dorf. Für unsere Bevölkerung ist dies gewissermaßen eine einmalige Gelegenheit.“
„Ich verstehe. Aber es gehört zu den Gesetzen der königlich britischen Seefahrt, daß man ein Schiff Ihrer Majestät niemals ohne eine Mindestbesatzung läßt.“
Charangu zog die Augenbrauen hoch. „Ihr Schiff gehört der englischen Königin? Ein Kriegsschiff?“
Der Seewolf lächelte. „Wir segeln im Auftrag der Königin.“
Charangu nickte, obwohl er keineswegs verstand, was dies bedeutete. „Nun, Mister Killigrew, wenn ich dann vorschlagen darf, daß zunächst die Männer, die bei Ihnen sind, an unserem Fest teilnehmen. Später könnten Sie sie vielleicht gegen jene austauschen, die sich noch auf dem Schiff befinden.“
Hasard willigte ein. Er durfte Charangu jetzt nicht vor den Kopf stoßen. Gleichzeitig spürte er, daß irgend etwas in der Luft hing. Was es war, konnte er noch nicht einmal vermuten. Was verbarg der Inder hinter der unergründlichen Fassade seines Gesichts? Es mußte mehr sein als dieses verrückte Schauspiel, das er auf Kahoolawe inszenierte.
5.
Es war erstaunlich, was die Menschen aus dem wenigen zauberten, das sie besaßen.
Auf dem freien Platz im Zentrum des Dorfes wurde im Handumdrehen ein Festmahl bereitet, das sich sehen lassen konnte. Frauen und Mädchen servierten Früchte auf frischen Palmenblättern. Die Männer entfachten ein Feuer in einer Grube, und schließlich wurde die Glut mit Steinen überdeckt. Darauf garten sie Fische, die erst an diesem Morgen gefangen worden waren. Es gab schwere, süße Getränke, die die Männer der „Isabella“ anfangs nur zögernd genossen. Doch schon bald stellten sie fest, daß sich keine üblen Nachwirkungen zeigten. Verglichen mit dem hochprozentigen Gebräu, das sie aus der Karibik kannten, war dies hier eher harmlos.
Am Rand des Platzes hatte eine Gruppe von Musikern Aufstellung genommen – zwei Trommler und drei weitere junge Männer, die kleine, lautenähnliche Instrumente spielten. Die Klänge waren sanft und einschmeichelnd wie auch der Gesang, den sie dazu anstimmten.
Edwin Carberry, Ferris Tucker und die anderen hockten auf dem Erdboden, wie es die Polynesier auch taten. Und die Seewölfe zeigten offenes Vergnügen daran, sich von den Mädchen mit Gaumengenüssen verwöhnen zu lassen.
Überall hatten die Gibbons volle Bewegungsfreiheit, durften Leckereien von den Palmenblättern stibitzen und wurden von den Polynesiern bereitwillig gefüttert, sobald sie fordernd die überlangen Arme ausstreckten. Lediglich die Männer der „Isabella“ hatten das Recht, die haarigen Wesen aus ihrer Nähe zu verscheuchen. Als Menschen, die ihrerseits einen Affen-Gott befehligten, verfügten sie in den Augen der Polynesier offenbar automatisch über dieses Recht.
Arwenack hatte einen Ehrenplatz zu Füßen des Seewolfs und ein eigenes Palmenblatt mit Mango-Früchten und Kokosnüssen erhalten. Sein Interesse an dem Ober-Gibbon, der mit blasierter Miene durch die Menschenansammlung stolzierte und sich hier und da einen Bissen reichen ließ, war erlahmt.
Hasard saß neben dem Inder vor dessen königlicher Hütte. Ihre Sitzgelegenheit bestand aus stuhlähnlichen Holzgestellen, die mit Affenfellen ausgepolstert waren. Das schattenspendende Vordach der Hütte war aus Palmenblättern gefertig wie alles, was die Polynesier auf dieser Insel als Behausung verwendeten.
Wegen der Bordwache auf der „Isabella“ gab es für den Seewolf keine Sorgen. Ben Brighton, so war es vereinbart worden, hatte das Geschehen bei der Ankunft auf der Insel mit dem Spektiv beobachtet. So wußte er also, daß es bislang keine Komplikationen gegeben hatte.
„Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel“, sagte Charangu nach einer Weile des Schweigens, „aber ich muß es noch einmal zur Sprache bringen …“ Er zögerte.
Hasard blickte ihn gelassen von der Seite an. „Das Mädchen?“
„So ist es, Mister Killigrew.“ Charangu biß ein Stück von einer Papaya-Frucht ab und warf den Rest auf ein hölzernes Tablett, das neben ihm auf einem Hocker stand. Mit einem weißen Tuch betupfte er seine Lippen. „Wissen Sie, es ist mir sehr unangenehm, daß ich dieses Thema nicht unter den Tisch fallen lassen kann. Aber es geht auch darum, daß ich meine Autorität als König dieses kleinen Volkes wahren muß.“
„Ich verstehe“, entgegnete Hasard ruhig und deutete auf die Polynesier, die in unmittelbarer Nähe am Boden hockten. „Eine grundsätzliche Frage: Versteht irgend jemand hier Englisch?“
Für einen Moment verzog Charangu das Gesicht, zwang sich dann aber, sein verbindliches Lächeln fortzusetzen.
„Nein, niemand. Alles, was sie können, haben sie von mir gelernt. Die englische Sprache habe ich ihnen nicht beigebracht. Wozu auch? Diese Insel ist eine Welt für sich. Es gibt keine Verbindung mit dem Rest der Welt.“
„Und woher stammen Ihre Englischkenntnisse, Charangu?“
„Nun, ich habe einiges von der Welt gesehen, bevor ich hierherverschlagen wurde. Und da Englisch beginnt, eine Weltsprache zu werden …“ Er hob die Hände zu einer Gebärde, die für sich sprechen sollte.
„Es klingt geheimnisvoll, was Sie sagen.“ Hasard hatte keine Skrupel, vom eigentlichen Thema abzulenken. Solange der Inder es sich gefallen ließ, bewies er seine Unsicherheit. „Sie sind also nicht freiwillig nach Kahoolawe gelangt?“
„Nein, nein.“ Charangu antwortete eine Spur zu hastig. „Ich bin als Schiffbrüchiger hier gelandet. Die Eingeborenen haben mich aufgepäppelt. Und weil ich für sie ein Wesen aus einer fremden Welt war, haben sie mich zu ihrem König ernannt. Ich konnte nichts dagegen tun. Aber hätten Sie sich an meiner Stelle gesträubt? Ein besseres Leben als jetzt kann ich kaum führen, nicht wahr?“
Hasard zuckte mit den Schultern.
„Jeder trifft seine eigenen Entscheidungen“, sagte er vieldeutig. „Wie lange leben Sie schon hier?“
„Genau weiß ich es nicht. Fünf Jahre, sechs Jahre … Wissen Sie, in der ersten Zeit habe ich mir meinen eigenen Kalender angefertigt. Aber man gewöhnt sich daran, daß man so etwas nicht braucht. Heute lebe ich im gleichen Rhythmus wie die Polynesier, und die richten sich nach dem Mond.“
„Auch nach dieser besonderen Art von Götterverehrung?“
Charangu lachte, und es klang unnatürlich. „Ja, damit wurde ich genauso konfrontiert wie Sie, Mister Killigrew. Sie haben es deutlich zum Ausdruck gebracht wie Sie darüber denken. Ich nehme es Ihnen beileibe nicht übel.“
„Sondern?“
„Ich habe mich mit den Dingen abgefunden, wie sie sind. Die Eingeborenen praktizierten diesen Affen-Kult bereits, als ich hier eintraf. Weil sie mich zu ihrem König ernannten, bin ich der einzige, der die lausigen Kreaturen nicht respektieren muß. Auch darüber bin ich froh. Oder hätten Sie Lust, ständig vor einem dummen Affen auf die Knie fallen zu müssen?“
„Ganz gewiß nicht.“ Hasard glaubte dem Inder kein Wort.