„Sicher erscheinen Ihnen die Umstände merkwürdig, was Moana betrifft“, sagte der Inder nach einer Weile zögernd.
„Allerdings.“
„Es ist aber nicht so, daß ich aus purem Vergnügen versucht habe, das Mädchen zurückzuholen. Sie ist eine Verbrecherin, wie ich sagte. Ich mußte ein Exempel an ihr statuieren. Wenn ich in solchen Fällen nicht hart durchgreife, könnte ein Chaos entstehen. Ich denke, Sie verstehen das.“
„Was hat sie getan?“
Charangus Antwort folgte prompt. Aber er hatte auch genügend Zeit gehabt, sich diese Antwort zurechtzulegen.
„Sie hat den Mann abgewiesen, der ihr zugeteilt wurde. Es ist hierzulande so wie in vielen anderen Teilen der Welt auch. Die Eltern eines Mädchens wählen für ihr Kind einen Bräutigam aus. Zwischen den Eltern des Mädchens und den Eltern des jungen Mannes wird ein Vertrag abgeschlossen, und daran hat sich gefälligst jeder zu halten. Moana aber entzog sich demjenigen, der ihr bestimmt war. Nur weil sie ihn nicht leiden konnte. Sie ist ein eigensinniges kleines Ding. Ich nehme an, sie war in einen anderen verliebt. Aber auch das ist streng verboten. Kein Mädchen darf vor der Heirat Beziehungen zu einem Mann haben. Sie können sich vielleicht vorstellen, welche strengen Sitten die einfältigen Menschen hier haben. Von mir als König erwartet man natürlich, daß ich in solchen Fällen für Ordnung sorge. Tue ich es nicht, muß ich selbst damit rechnen, daß ich bei meinem Volk in Ungnade falle.“
„Mhm“, brummte Hasard scheinbar verständnisvoll. Er runzelte die Stirn und tat, als denke er angestrengt nach. Schließlich gab er sich einen Ruck. „Wie wäre es, wenn Sie mit meiner Hilfe alles zum besten wenden?“
Charangu zog überrascht die Brauen hoch.
„Wie meinen Sie das?“
„Wir bringen Moana zurück auf die Insel. Dann verkünden wir, daß unser Schimpanse, der ja ein besonders hoher Gott ist, sein Urteil gesprochen hat.“ Hasard mußte sich zwingen, ernst zu bleiben. Er hatte alle Mühe, nicht in Gelächter auszubrechen.
„Und wie soll das Urteil lauten?“
„Unser Gott würde bestimmen, daß Moana den Mann wählen kann, den sie wirklich liebt. Das könnte dann auch für alle Zukunft gelten, so daß es Probleme dieser Art auf Kahoolawe nicht mehr geben würde. Damit wäre doch letzten Endes auch Ihnen gedient, nicht wahr?“
Charangu stützte das Kinn in seine rechte Hand und starrte mit zusammengekniffenen Augen zu Boden.
Hasard hätte viel darum gegeben, jetzt die Gedanken des Inders lesen zu können. Mit Sicherheit wurden seine Schwierigkeiten größer, als sie ohnehin schon waren.
In der Tat geriet Charangu innerlich in wachsende Bedrängnis. Einerseits war das Angebot des Engländers natürlich äußerst verlockend. Auf diese Weise kehrte Moana auf die Insel zurück, ohne daß man große Anstrengungen dafür unternehmen mußte. Und das kleine Schauspiel, was das sogenannte Gottesurteil des fremden Affen betraf, ließ sich leicht inszenieren – dank der Sprachbarriere. Charangu schätzte sich in diesem Moment besonders glücklich, der einzige auf Kahoolawe zu sein, der beide Sprachen beherrschte.
Andererseits aber wurde die Zeit knapp. Nur noch ein Tag blieb bis zur fälligen Auslieferung des Mädchens und der Perlenausbeute. Der Unsicherheitsfaktor waren in diesem Zusammenhang die Engländer. Wenn sie wirklich rechtzeitig verschwanden – in Ordnung. Wenn sie es sich aber noch anders überlegten …
Charangu hob den Kopf.
„Ich bin einverstanden“, sagte er und wußte im selben Moment, daß ihm ohnehin keine andere Wahl blieb.
„Sehr gut!“ rief Hasard mit übertriebener Freude. „Ich lasse Moana so schnell wie möglich zurückbringen, und Sie tun das Ihre, indem Sie den Leuten erklären, was unser Freund Arwenack entschieden hat.“ Er strich lächelnd über den Kopf des Schimpansen. „Wir werden Ihnen in dieser schwierigen Situation selbstverständlich beistehen, Charangu. Ich kenne Naturvölker. Vielleicht akzeptieren sie das, was wir als Gottesurteil bezeichnen, nicht. Deshalb werden wir so lange auf der Insel bleiben und Moana bewachen, bis wir sicher sein können, daß ihr nichts geschieht.“
Charangu beherrschte sich in letzter Sekunde, um nicht seine Fassungslosigkeit zu zeigen. Er hatte das Gefühl, in einen endlosen Abgrund zu versinken. Dieser gottverdammte Fremde hatte ihn hereingelegt. Kaltlächelnd und mit der linken Hand.
„Ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet, Mister Killigrew“, sagte Charangu dennoch mit überschwenglicher Höflichkeit und einer angedeuteten Verneigung. „Ich weiß Ihr Entgegenkommen sehr zu schätzen.“
Während er sich diese Worte abrang, wurde im eins klar: Es gab nur noch eine einzige Möglichkeit, um die Sache zum Guten zu wenden.
Wenn Moana erst einmal auf der Insel war, mußte sie verschwinden. Spurlos und so schnell wie möglich.
Die Nachmittagssonne brannte vom strahlend blauen Himmel, und der Strand leuchtete in einer gleißenden Helligkeit, die die Augen schmerzen ließ.
Eine Schar von Mädchen war bei den Auslegerbooten eifrig beschäftigt. Helles Lachen und Wortfetzen wehten durch die Luft. Ihre Stimmen klangen fröhlich und ausgelassen – mehr als sonst, denn Moana war wieder unter ihnen. Eilends verluden sie Flechtkörbe und Gerätschaften. Die Mädchen waren nur mit straff gewickelten Hüfttüchern bekleidet, und dennoch wirkten sie dabei natürlich, weil es für sie die selbstverständlichste Sache der Welt war.
Hasard und Siri-Tong saßen auf dem Stamm einer abgestorbenen, umgestürzten Palme.
Dan O’Flynn stand vor ihnen und drehte sich immer wieder zum Strand um. Er trug nur noch eine Leinenhose, die er bis zu den Knien aufgekrempelt hatte. Und er sah ungeduldig aus.
„Jetzt kannst du reden“, sagte der Seewolf. Dan hatte ihn in den vergangenen Stunden mehrmals mit verstohlenen Blicken und Gesten darauf aufmerksam gemacht. Seit die zweite Gruppe der „Isabella“-Crew auf der Insel gelandet war, hatten sie nun zum ersten Male Gelegenheit für ein unbeobachtetes Gespräch.
„Ich konnte mich mit Moana ein wenig verständigen“, sagte Dan hastig und drehte sich abermals um. „Mit der Zeichensprache kann man mehr ausdrükken, als ich für möglich gehalten hätte.“
Unten am Strand schoben die Mädchen das erste Auslegerboot ins Wasser.
„Und?“ drängte Hasard.
Siri-Tong blickte ihn lächelnd an, wurde aber sofort wieder ernst, als Dan O’Flynn fortfuhr:
„Moana hat mir verklart, daß sie sterben sollte. Deshalb ist sie geflohen. Wenn ich richtig verstanden habe, war sie die erste, die das jemals gewagt hat. Vor ihr sind regelmäßig junge Mädchen verschwunden, so ungefähr jeden Monat.“ Er drehte sich erneut um. Die Mädchen schoben das zweite Boot ins Wasser.
„Warum?“ fragte Siri-Tong. „Konntest du in Erfahrung bringen, warum die Mädchen verschwanden, Dan?“
„Nicht genau. Ich glaube, es war so eine Art Ritual. Die Leute mußten jedesmal das schönste Mädchen wählen, mit einer richtigen Abstimmung. Moana redete immer von ‚Kuolai‘. Das muß ein Berg sein, wenn ich richtig verstanden habe. Scheint so, als ob die Mädchen dorthin gebracht wurden. Mehr weiß ich nicht. Nur, daß Moana überglücklich ist. Immerhin haben wir ihr Leben gerettet.“
„Hat sie keine Angst?“ fragte Hasard zweifelnd. „Wir können sie doch nicht dauernd beschützen.“
„Sie glaubt an dieses – Gottesurteil“, entgegnete Dan, „sie glaubt daran, daß unsere Entscheidung durch nichts und niemanden umgestoßen werden kann.“ Er wandte sich um. Alle Auslegerboote waren mittlerweile zu Wasser gelassen worden. „Ich muß ein wenig nach dem Rechten sehen! Bis später!“