Doch Don Felix Maria Samaniego hatte darauf bestanden, daß weitergefahndet wurde. Er war unerbittlich in der Härte seiner Befehle und dem Verlangen, Young wieder in das Lager zurückzuführen.
Kurz vor dem Morgengrauen hatten sich die Gruppenführer für eine neue Taktik entschieden. Sie hatten die Soldaten ausschwärmen lassen. Zoll um Zoll wurde der Busch abgekämmt, und wer doch noch auf den Flüchtling stieß, der sollte einen Musketenschuß in die Luft abgeben.
Der Soldat blickte Morgan Young so entgeistert an, als wäre dieser ein von den Toten Auferstandener. Es war seiner großen Müdigkeit und Verdrossenheit zuzuschreiben, daß er ziemlich spät auf die Entdeckung des Mannes reagierte.
Young indessen zückte seinen Beutesäbel und stürzte sich wutentbrannt auf den Mann.
Der Soldat hob seine Muskete. Er wollte auf Young abdrücken, aber dieser hatte ihn schon erreicht, riß den Säbel in einer gewaltigen, schwungvollen Bewegung hoch und traf mit der Klinge den Schaft der Schußwaffe.
Die Muskete ruckte hoch. Der Soldat drückte noch ab, aber der Schuß blaffte in den Morgenhimmel.
Morgan Young trat mit dem Fuß zu, erwischte die Hüfte des Spaniers und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er hatte den Säbel mit beiden Fäusten gepackt, hieb noch einmal zu und traf wieder die Muskete. Klirrend strich die Schneide der Klinge über den Eisenlauf und wetzte sich schartig daran. Aber der Streich genügte, um dem Soldaten die Muskete aus den Händen zu reißen. Er hatte vorgehabt, sie Morgan Young auf den Kopf zu schmettern, doch dieses Vorhaben war nun vereitelt.
Der Spanier stolperte rückwärts und stürzte ins Dickicht. Er stieß einen hellen Laut des Entsetzens aus, griff mit der rechten Hand an die Hüfte und zerrte die Steinschloßpistole aus dem Gurt.
Young ließ den Säbel auf ihn niedersausen. Er traf den rechten Arm des Gegners, hob seine Waffe wieder an, schlug noch einmal zu und zielte diesmal auf den ungeschützten Hals.
Auch dieser Streich ging nicht fehl.
Ein erstickter Schrei war der letzte Laut, den der Soldat von sich gab, dann sank er zur Seite und rührte sich nicht mehr.
Young wandte sich ab und lief weiter, durch das Unterholz des Dschungels zur See. Er hatte das Bild des sterbenden Soldaten auch noch vor sich, als der Blättervorhang des Urwaldes aufriß und den Blick auf die Brandung freigab.
Er fluchte, als er sah, wie hoch die Wellen schlugen, aber er wußte auch, daß er keine andere Wahl mehr hatte. Er mußte auf das Meer hinaus, denn binnen weniger Minuten würden die Kameraden des toten Soldaten im Busch zusammengelaufen sein. Der Schuß hatte sie alarmiert, sie mußten die Leiche finden. Sie würden die gnadenlose Jagd erneut aufnehmen, und diesmal endete sie unweigerlich tödlich für Young, wenn er nicht sofort das Land verließ.
Er sah sich nach einem Hilfsmittel für seine Flucht um.
Ein Floß konnte er sich nicht mehr bauen. Damit durfte er sich nicht aufhalten, die Spanier würden ihm dafür keine Zeit lassen.
Er entdeckte ganz in seiner Nähe einen ungefähr einen Yard langen, dicken Baumstumpf, der hart am Rand des bewachsenen Ufers lag und von der gischtenden Brandung überspült wurde.
Dorthin wandte er sich und bückte sich, um den Stumpf ins Wasser zu schieben.
Er hob seinen Blick etwas, spähte wieder über die Brandung und die tanzenden Wogen auf die See – und dann glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu dürfen.
Genau von Süden her segelte ein Schiff heran und war jetzt schon mit bloßem Auge so deutlich zu erkennen, daß Morgan Young es einwandfrei als eine Galeone identifizierte.
In ihrem Großtopp schlug die Flagge hin und her, die Young auch auf eine größere Distanz noch wiedererkannt hätte: der „White Ensign“ – die weiße Flagge mit dem roten Georgskreuz darauf.
„Engländer“, stammelte Young wie von Sinnen. „Herr im Himmel, ich danke dir, daß du mir dieses Schiff geschickt hast.“
Dann begann er wild zu winken.
Gary Andrews richtete sich hoch auf und stieß einen verblüfften Laut aus. Er wäre jetzt glatt über die Segeltuchumrandung des Großmarses gekippt, wenn er sich nicht am Großmast festgebunden hätte. Er spähte durch seinen Kieker, um sich zu vergewissern, daß er sich beim ersten Hinsehen nicht getäuscht hatte.
Dann brüllte er zum Deck hinunter: „Weißer Mann Backbord voraus! Er winkt uns zu!“
Hasard war immer noch auf dem Quarterdeck und hatte Garys Ruf deutlich vernommen. Er legte den Kopf in den Nacken und schrie durch das Rauschen der Fluten und das Singen des Windes: „Kannst du aus seinen Signalen ersehen, was er von uns will?“
„Nein, Sir! Er steht am Ufer und gebärdet sich wie ein Verrückter!“
„Wie sieht er aus?“
„Ausgesprochen dreckig und zerlumpt, Sir!“
„Hol’s der Henker!“ rief jetzt Ben Brighton, der den Dialog vom Achterdeck aus verfolgt hatte. „Wieder ein Schiffbrüchiger?“
„Das läßt sich nicht feststellen!“ brüllte Gary zurück.
„Das gibt ein Unglück!“ schrie der alte O’Flynn, der soeben auf dem Achterdeck erschien. „Hasard, nimm dich in acht! Denk an Seribu!“
Er hatte wirklich allen Grund, seine Bedenken anzumelden, denn auf Seribu in der nördlichen Sundastraße waren die Seewölfe durch Kapitän Einauge – einen Portugiesen namens Laurindo de Carvalho – in eine teuflische Falle gelockt worden, weil dieser sich als vermeintlicher Schiffbrüchiger neben das Wrack einer Jolle gelegt hatte.
„Wie weit sind wir von der Küste entfernt?“ wollte Hasard von Ben Brighton wissen.
„Keine fünf Meilen mehr, Sir!“
Hasard hatte angeordnet, mit der „Isabella“ dicht unter Land zu gehen, dann wieder anzuluven und auf vier, fünf Meilen Abstand zum Ufer am Dschungel entlangzusegeln.
Jetzt war etwas Unerwartetes eingetreten, und er mußte eine Entscheidung treffen.
„Gary!“ schrie er. „Kannst du an der Kleidung des Mannes erkennen, welcher Nationalität er ist?“
„Unmöglich, Sir!“
Der Seewolf eilte auf die Kuhl hinunter, hangelte in den Manntauen weiter nach vorn und enterte die Back. Von hier aus peilte er durch sein Spektiv selbst die Gestalt des fremden Mannes an, der da so sichtbar aufgeregt vor dem Mangrovendickicht auf und ab sprang und unverständliche Zeichen gab.
Nur eins wurde deutlich: Er machte auf sich aufmerksam, weil er sich offensichtlich in Not befand.
Hasard fuhr zu Ben, Old O’Flynn, Ferris Tucker, Shane und dem Profos herum, die ihm gefolgt waren, um seine Befehle entgegenzunehmen. „Wir halten mit unverändertem Kurs auf die Küste zu!“ rief er ihnen zu. „Wir müssen wenigstens herauskriegen, ob er sich wirklich in Gefahr befindet. Sollte das der Fall sein, ist es unsere Pflicht, ihm zu helfen.“
Old O’Flynn schnitt eine Grimasse und schrie mit ziemlich schriller Stimme: „Hölle und Teufel, war dir Seribu keine Lehre? Muß sich das unbedingt wiederholen, damit du klug wirst?“
„Nichts wiederholt sich, Donegal!“ gab Hasard scharf zurück.
„Du wirst schon sehen, was du davon hast!“
„Donegal!“ rief der Seewolf. „Wer ist hier der Kapitän – du oder ich?“
„Du, Sir.“
„Dann rede mir nicht in meine Anordnungen hinein!“ sagte Hasard schroff.
Old O’Flynn biß sich auf die Unterlippe. Trotz des Altersunterschiedes