Er marschierte in Richtung Göteborg und hoffte, die Straße zu finden, auf der er früher oder später vielleicht Reiter oder sogar einen Wagen antreffen würde. Doch er schaffte es nur knapp eine Meile weit, dann begann es in dikken Flocken zu schneien. Das Schicksal schien sich gegen ihn gewendet zu haben: Bald steigerte sich das Wetter zu einem dichten Schneetreiben, und er hatte Mühe, die Orientierung zu behalten.
Nach Ablauf einer weiteren halben Stunde war sein Ortssinn tatsächlich gestört. Er wußte nicht mehr, wo er war. Wieder begann er wild zu fluchen, verstummte aber gleich wieder. Was war, wenn jemand seine Verfolgung aufgenommen hatte? Würde er sich nicht durch seine heftig hervorgestoßenen Worte verraten und den Gegner nur anlocken?
Er preßte die Lippen aufeinander. Björnson begann nun zu stöhnen, doch er kam immer noch nicht zu sich. Stenmark suchte nach einem Unterschlupf, um wenigstens das Ende des Schneegestöbers abzuwarten und die Wunde des Hauptmanns zu verbinden. Nach einigem planlosen Hin und Her entdeckte er schließlich eine Höhle und kroch hier mit seinem Begleiter unter.
„Scheißspiel“, murmelte er. „Das hat mir gerade noch gefehlt.“
Er untersuchte Björnson und gelangte zu dem Schluß, daß es diesem wenig nutzte, wenn er ihn jetzt verband. Die Blutung hatte aufgehört. Doch Björnson mußte unbedingt zu einem Arzt gebracht werden, damit dieser ihm das Blei aus der Schulter holte. Stenmark wußte genau, was dem Mann sonst blühte. Er würde eine Wundentzündung und den damit verbundenen Starrkrampf kriegen, der den sicheren Tod nach sich zog.
In den Jahren an Bord der Schiffe des Seewolfes hatte Stenmark vom Kutscher, dem Koch und Feldscher der Crew, so manches gelernt. Aber wie man eine Kugel entfernte, die obendrein noch so tief wie diese saß, wußte er nicht. Man brauchte dazu bestimmte Gerätschaften, ein Messer genügte nicht. Stenmark befürchtete außerdem, den Hauptmann umzubringen, wenn er an der Schulter herumzuoperieren begann.
In Björnsons Taschen fand er einen Flint und Feuerstahl. Das ist wenigstens etwas, dachte er. Er begann nun, vor der Höhle nach dürrem Holz und Reisig zu suchen. Das war ein mühsames Werk, und er bereute es, den Ast, der ihm als Waffe gedient hatte, unterwegs im Wald zurückgelassen zu haben.
Endlich aber hatte er genug Holz zusammen, um ein Feuer entfachen zu können. Sorgsam schichtete er es in der Höhle zu einer kleinen Pyramide auf, legte das dürre Holz und ein paar Rindenstücke als Zunder darunter und fing dann an, den Flint gegen den Feuerstahl zu schlagen, bis der Zündfunke übersprang und das Feuernest in Brand setzte.
Die Flammen züngelten auf, griffen nach den Scheiten und verbreiteten Wärme und Licht. Stenmark rieb sich die Hände, sie hatten heftig zu frieren begonnen. Er wußte, daß ein Lagerfeuer in einer Nacht, die man im Freien verbrachte, bei so niedrigen Temperaturen, wie sie in Schweden herrschten, mehr bedeutete als Essen und Trinken. Vierundzwanzig Stunden konnte ein Mann schon einmal verbringen, ohne auch nur einen Tropfen Wasser zu sich zu nehmen – doch wenn er sich in diesem Land nicht aufzuwärmen verstand, dann starb er den Tod des Erfrierens, ehe die Sonne wieder am Horizont aufstieg.
Stenmark rückte den Landeshauptmann so nah an das Feuer, wie es möglich war. Er wartete darauf, daß er zu sich kam, doch vorläufig lag Stig Björnson immer noch in tiefer Bewußtlosigkeit.
Stenmark fühlte sich für das, was ihm zugestoßen war, mit verantwortlich. Björnson hatte sich für ihn eingesetzt, indem er dafür gesorgt hatte, daß er, Stenmark, unbehelligt bis nach Göteborg gelangte. Und das hatte er nun davon: Die Buschteufel hatten zugeschlagen und ihn so verletzt, daß er bald zwischen Leben und Tod schweben würde.
Wenn ich nur die „Isabella“ erreichen könnte, dachte Stenmark mit verbissenem Gesicht, dort würden der Kutscher und Mac Pellew dem Verletzten die Kugel sofort herausholen.
Doch vorerst war er dazu verdammt, in der Höhle auszuhalten. Das Schneetreiben ließ nicht nach, es nahm eher noch zu. Jaulend strich der Wind am Eingang der Grotte vorbei.
Etwas später stellte Stenmark fest, daß Björnson und er nicht allein waren. Sie wurden beobachtet – jedoch nicht von zweibeinigen Gegnern. Schatten tauchten in der Nacht auf, schlichen an der Höhle vorbei und verschwanden wieder – Wölfe!
Auch aus diesem Grund brauchte Stenmark das Feuer. Doch es würde erlöschen, wenn er nicht für Nachschub sorgte. Holz mußte her. Das Holz konnte er draußen aufsammeln. Was aber würden die Wölfe tun?
Er grinste verkniffen, dann nahm er auch Björnson die Waffen ab: seine eigene Pistole, eine zweite Pistole mit Radschloß, den Schiffshauer und das Messer. Somit verfügte er also über drei Pistolen, über einen Cutlass und einen Degen sowie über zwei Messer. Die Munition für die Schußwaffen war knapp. Falls er sich gegen massive Angriffe der Wölfe verteidigen mußte, reichte sie nicht aus.
Mit ruhigen Bewegungen lud er die Pistolen. Bildet euch bloß nicht ein, daß ihr mich packen könnt. Ein Seewolf läßt sich von einem elenden Landwolf nicht in den Hintern beißen, verstanden?
Er wußte aber selbst ganz genau, daß dies nur bitterer Galgenhumor war. Wenn sich ein komplettes Rudel vor der Höhle einfand, hatte er wenig zu lachen, denn sie würden versuchen, Björnson und ihn zu holen – trotz des Feuers, dessen Schein an den Wänden zuckte.
Mit drei Pistolen im Gurt und dem Schiffshauer in der Faust glitt er ins Freie und suchte erneut nach Brennholz. Ständig war er auf der Hut und achtete darauf, daß er den Rücken frei hatte. Einmal glaubte er, im Wald die gelblichen, schmalen Lichter eines Wolfes zu sehen. Dann, auf dem Rückweg zur Höhle, vernahm er ganz dicht neben sich ein verhaltenes Knurren. Er holte mit dem Cutlass aus und führte einen Streich in die Finsternis hinaus. Das Knurren verstummte.
Stenmark verlor das Brennholz aus der linken Hand und mußte es mühsam wieder aufsuchen. Seine Finger drohten wieder steif zu werden. Der Schnee trieb ihm ins Gesicht und behinderte seine Sicht. Fluchend betrat er die Höhle und hatte Angst, daß die Wölfe sich Björnson bereits geholt hatten – doch er durfte aufatmen. Der Landeshauptmann war noch da.
Er lud das Holz ab und legte ein paar Scheite in das Feuer, so daß die Flammen gleich wieder höher aufstiegen.
Wie soll das weitergehen? dachte er.
Björnson regte sich plötzlich und kam zu sich. „Wo sind wir, Stenmark?“ fragte er mit leiser Stimme. „Ich habe Schmerzen. Haben – die Kerle mich erwischt? Und Sie? Sind Sie auch verletzt?“
„Nein, ich habe Glück gehabt, Hauptmann“, entgegnete Stenmark. „Aber mir wäre lieber gewesen, wenn sie mir das Stück Blei verpaßt hätten, glauben Sie mir.“ Er begann zu berichten, was sich abgespielt hatte, nachdem einer der heimtückischen Gegner auf Björnson gefeuert hatte.
„Eine verfahrene Situation“, murmelte der Landeshauptmann am Ende. „Aber wir sollten trotzdem versuchen, das Beste daraus zu machen. Geben Sie mir eine Pistole. Keine Sorge, ich komme mit dem rechten Arm und der Hand noch gut zurecht. Schade, daß wir keinen Schnaps haben. Mein Falbe hat die Flasche mitgenommen, die ich immer in der Satteltasche bei mir führe – für alle Fälle.“
Stenmark händigte ihm die Pistole aus, dann sagte er: „Es tut mir leid, daß Sie nun doch Scherereien mit mir haben.“
„Es ist nicht Ihre Schuld, daß wir überfallen worden sind. Aber Olaf Sundbärg kann sich auf etwas gefaßt machen.“
„Auch Sie glauben, daß er dahintersteckt?“
„Wer denn wohl sonst?“ stieß Björnson hervor. „Es gehört ja kein Scharfsinn dazu, ihn als Anstifter hinter der Sache zu vermuten. Und überhaupt, für wie idiotisch hält er uns? Denkt er, wir würden nicht darauf kommen?“
Stenmark schüttelte den Kopf. „Das nicht. Er denkt, er könnte uns ausschalten. Für alle Zeiten. Er findet uns wieder, Hauptmann, verlassen Sie sich darauf.“
„Na schön, soll er es tun. Ganz wehrlos sind wir ja nicht.“
Stenmark betrachtete das Gesicht Björnsons, das sich vor Schmerzen verzog. Lange würde