Er trat bereits den Rückweg zur Höhle an, da knallte plötzlich ein Schuß. Stenmark begann zu laufen, strauchelte um ein Haar, fing sich gerade noch rechtzeitig, erreichte die Höhle und sah den Kadaver eines Wolfes im Eingang liegen.
Er hastete daran vorbei und stürzte zu Stig Björnson.
„Hauptmann!“ stieß er hervor. „Ist alles in Ordnung?“
Björnsons Gesicht war kalkweiß. „Natürlich. Ich habe den Bruder erledigt, als er mich gerade begrüßen wollte. Allerdings muß ich Sie darum bitten, mir die Pistole nachzuladen, das schaffe ich nämlich allein nicht. Außerdem wäre ich froh, wenn Sie mich nicht dauernd ‚Hauptmann‘ nennen würden. Sagen Sie Stig zu mir, verdammt.“
„In Ordnung, Stig“, sagte Stenmark und ließ sich neben ihm nieder. „Übrigens sollten wir uns keinen Illusionen hingeben. Der Schuß ist garantiert von unseren anderen Feinden gehört worden – von den zweibeinigen Wölfen. Sie wissen jetzt, wohin sie sich zu wenden haben, um uns zu finden.“
„Wir stecken also ganz schön im Dreck, wie?“ fragte Björnson.
„Das kann man ruhigen Gewissens behaupten.“
„Ich schieße jeden nieder, der seine Nase in die Höhle steckt“, murmelte Björnson. „Und es ist mir dabei verfluchtegal, wieviel Beine er hat, zur Hölle.“ Damit wurde er wieder ohnmächtig.
9.
Hasard begegnete Old O’Flynn bei der Morgenwache auf dem Achterdeck der „Isabella“.
„Was ist denn los, Donegal?“ fragte er ihn. „Du hast doch gar keinen Dienst.“ Es war noch nicht hell geworden, doch der Alte schlich wie ein Spukwesen herum.
„Ich mach mir so meine Gedanken“, brummte Old O’Flynn. „Wegen Stenmark. Du weißt ja, manchmal habe ich Gesichte und Visionen und all dieses Zeug, von dem Big Old Shane und die meisten anderen nichts hören wollen.“
„Ja. Ich habe es auch nicht so gern, wenn du mit deiner Schwarzmalerei anfängst, Donegal.“
„Schon gut. Aber mit Stenmark stimmt was nicht. Der hat sich in Gefahr begeben, ich schwör’s dir. Ich will den Teufel dieses Mal nicht ans Schott malen, doch ihm ist was zugestoßen, das spüre ich in meinem Beinstumpf, verflucht noch mal.“
„Donegal“, sagte der Seewolf. „Stenmark hat Landurlaub, bis morgen früh noch. Er ist hier zu Hause und aufgebrochen, um seine Familie zu besuchen. Ich glaube, daß er damit ganz bestimmt allein fertig wird. Wieso sorgst du dich eigentlich so um ihn?“
„Hör mal“, entgegnete der Alte zornig. „Ich bin auch kein Unmensch und halte eine ganze Menge von Kameradschaft – wenn auch so mancher hier an Bord meint, ich sei ein mürrischer alter Meckerer. Wenn du’s genau wissen willst: mir sind die Männer ans Herz gewachsen, jeder von ihnen. Mir täte es ganz gewaltig leid, wenn Stenmark unsere Hilfe in diesem Moment brauchen könnte, während wir hier wie die Blödmänner rumstehen, verstehst du?“
Hasard lächelte. „Ja. Du hast dich ja deutlich genug ausgedrückt. Überhaupt ist es gut, solche netten Worte mal aus deinem Mund zu hören, Donegal.“
Kurze Zeit darauf lächelte er allerdings nicht mehr, denn im ersten schwachen Dämmerlicht des neuen Tages erschien ein Mann auf der Holzpier und wurde von Batuti aufgehalten, der an der Gangway Wache hielt.
„Ich möchte bitte mit Ihrem Kapitän sprechen“, sagte der Mann, doch die Angst, die er vor dem schwarzen Herkules verspürte, war seinen Zügen deutlich abzulesen.
„Ich verstehe kein Wort“, sagte der Gambia-Mann, dann drehte er sich zur Kuhl hin um und rief: „Deck! Hier will jemand was von uns, glaube ich, er scheint so ein alter Schwede zu sein.“
Blacky, der auf der Kuhl Wache hatte, trat näher, dann erschienen auch Hasard, Old O’Flynn und Nils Larsen. Nils begann zu übersetzen, was der fremde Mann vortrug.
„Ich bin der Besitzer des Mietstalls hier ganz in der Nähe“, erklärte er. „Örjan ist mein Name. Gestern nachmittag hat ein Mann bei mir ein Pferd ausgeliehen – einen Schimmel. Ich wollte fragen, ob dieser Mann von Bord Ihres Schiffes stammt.“ Er wies die Silbermünze vor, die Stenmark ihm gegeben hatte. „Ich dachte mir, dieses ausländische Geldstück könnte vielleicht von dem einzigen ausländischen Schiff stammen, das zur Zeit bei uns im Hafen liegt.“
„Wir sind Engländer beziehungsweise ein paar Holländer und Dänen, und das ist eine spanische Münze“, sagte Nils Larsen nicht sonderlich freundlich, denn er vermutete, daß Örjan sie aufgesucht hatte, um irgendwelche unsinnigen Forderungen zu stellen.
„Einen Augenblick“, sagte der Seewolf jedoch, nachdem Nils für ihn und die anderen gedolmetscht hatte. Er beschrieb Stenmark so genau wie möglich, dann fragte er: „War das der Mann, von dem Sie sprechen, Örjan?“
Örjan bestätigte dies und fügte hinzu: „Der Schimmel ist vor einer halben Stunde in meinen Stall zurückgekehrt – allein. Ich bin ja von diesem Stenmark im voraus bezahlt worden, trotzdem finde ich das Ganze reichlich seltsam. Ist Stenmark an Bord Ihres Schiffes zurückgekehrt?“
„Nein, das ist er nicht“, erwiderte Hasard. „Er kann das Pferd also nicht zu Ihnen geschickt haben, falls es das ist, was Sie meinen, Örjan.“
„Eben. Deshalb hielt ich es für meine Pflicht, Sie zu benachrichtigen. Der Schimmel erscheint mir sehr nervös. Er ist schweißbedeckt, was darauf schließen läßt, daß er im Galopp mindestens zehn Meilen weit gelaufen ist.“
„Kann ich ihn mir einmal ansehen?“ fragte Hasard.
„Selbstverständlich“, antwortete der hilfsbereite Schwede. „Sie brauchen mir nur zu folgen.“
Dan O’Flynn war inzwischen ebenfalls auf dem Hauptdeck erschienen, er blickte vom einen zum anderen und fragte: „Was ist denn los? Ist was nicht in Ordnung?“
„Sieht so aus“, entgegenete Hasard, dann warf er Dans Vater einen langen Blick zu. „Manchmal glaube ich doch, du kannst hinter die Kimm schauen, Donegal.“
„Das habe ich nie behauptet“, brummte der Alte. „Wie ist es, kann ich dich begleiten?“
„Nein. Du übernimmst für die Zeit meiner Abwesenheit mit Ben zusammen das Kommando über die ‚Isabella‘. Dan und Nils, ihr geht mit, wir statten Örjans Stall einen Besuch ab, und dann entscheiden wir, was zu tun ist.“
„Augenblick, Sir“, sagte Blacky. „Könnte das nicht ein Trick sein, um uns in eine Falle zu locken? Ich meine, wir haben doch schon die tollsten Sachen erlebt, und es wäre nicht ausgeschlossen, daß irgendeine Bande von Hafenratten uns ausplündern will.“
Örjan verstand natürlich kein Wort von dem, was sie sprachen, denn sie unterhielten sich auf englisch. Hasard, Nils und selbst Old O’Flynn, der sonst immer die größte Skepsis an den Tag legte, waren der Ansicht, daß Örjan es ehrlich meinte. Hasard, Dan und Nils wollten ihn begleiten und sich selbst ein Bild von der Angelegenheit verschaffen.
„Wenn wir in einer Stunde nicht zurück sind“, sagte Hasard zu Old O’Flynn, „kannst du von mir aus den Hafenmeister, den Stadtkommandanten und die gesamte Garde von Göteborg alarmieren, vorher aber nicht. Sollte ich Örjan als Boten schicken, hat das seine Richtigkeit, denn es könnte sein, daß wir sofort aufbrechen müssen, um Stenmark aus der Klemme zu helfen.“
„Und wie soll ich Örjan verstehen?“ fragte der Alte. „Ich kann keinen einzigen Brocken Schwedisch, bei allen Seejungfrauen! Da du Nils mitnimmst, haben wir hier auch keinen Dolmetscher mehr.“
„Ich könnte dir einen Zettel schreiben, den Örjan dir dann überbringt“, sagte der Seewolf ungeduldig. „Das Lesen hast du doch noch nicht verlernt, oder?“
„Nein“,