5.
Erst nach Einbruch der Dämmerung steuerten Old O’Flynn und seine Gefährten von Osten her jene kleine Insel an, die Grand Turk auf der Atlantikseite vorgelagert war.
Für die Ausguckposten, die die Männer auf Grand Turk vermuteten, war die „Empress“ auf diese Weise keinesfalls zu sehen. Auf Anhieb erspähte Dan O’Flynn eine geschützte Bucht, die sich gleichfalls nach Osten öffnete – wie es auch drüben, beim Ankerplatz der Spanier, der Fall war.
Als Kapitän der „Empress“ hatte Old Donegal die Befugnis, die ersten Beobachter einzuteilen. Gleich nachdem die Karavelle in der Bucht vor Anker gegangen war, schickte er Dan, Don Juan und Matt Davies mit dem Beiboot los.
Die Vegetation auf der kleinen Insel war recht üppig. Dichter hüfthoher Strauchbestand reichte bis unmittelbar an den schmalen Strand und erstreckte sich auch bis hinauf zu einer flach ansteigenden Anhöhe.
Die drei Männer zogen das Boot an Land und verbargen es zwischen dem Gebüsch – eine Sicherheitsmaßnahme für alle Fälle. Man konnte nie wissen, ob Old Donegal nicht durch einen unvorhersehbaren Umstand gezwungen sein würde, das Weite zu suchen. In einem solchen Fall war es gut, wenn etwaige Beobachter von See her in der Bucht kein Zeichen entdeckten, das auf die Anwesenheit von Menschen hindeutete.
Zügig erklommen die Männer die Anhöhe. Rechtzeitig bevor sie den höchsten Punkt erreichten, duckten sie sich. Schließlich legten sie die letzten Yards kriechend zurück.
Dann, als sie vorsichtig die Zweige teilten, wechselten sie zufriedene Blicke. Die Anhöhe war zur Beobachtung der gegenüberliegenden Bucht geradezu ideal. Da das Strauchwerk eine hervorragende Deckung bot, konnten die Ausguckposten drüben auf Grand Turk unmöglich Verdacht schöpfen. Überdies war die Dunkelheit mittlerweile hereingebrochen. Die Männer vom Bund der Korsaren konnten sich völlig sicher fühlen.
Sie zogen ihre Spektive aus und widmeten sich den Einzelheiten, die sie so deutlich wie auf einem Präsentierteller erspähten.
Die Bucht der Spanier erstrahlte regelrecht im Lichterglanz. Capitán Cubera hatte alle verfügbaren Lampen setzen lassen, damit die Arbeiten an Bord der Schiffe offenbar möglichst lange andauern konnten. Wie es schien, hatte er sogar vor, die Schiffszimmerleute und ihre Helfer die ganze Nacht hindurch arbeiten zu lassen.
Gegen zehn Uhr änderte sich die Szenerie jedoch. Einige der Lampen hatten zu blaken begonnen und waren schließlich ganz erloschen. An Bord des Flaggschiffs „San José“ hatte ein Palaver zwischen Offizieren und Decksleuten eingesetzt. Die Entscheidung wurde schließlich von einem Mann getroffen, bei dem es sich dem Auftreten und dem Erscheinungsbild nach nur um Cubera handeln konnte.
Die Reparaturarbeiten wurden eingestellt.
„Die haben nicht genug Öl für die Lampen“, sagte Matt Davies halblaut. Das Blitzen seiner Zähne in der Dunkelheit zeigte an, daß er grinste.
Es zeigte sich, daß er recht hatte. Bis auf die Heck- und die Kuhllaternen wurden auf den großen Schiffen der Spanier alle Lampen gelöscht. Auf der Schaluppe brannte ohnehin nur ein einsame Funzel.
Dann, gegen Mitternacht, wurden die Männer von der „Empress“ Zeugen eines Geschehens, das ihnen zunächst in höchstem Maße rätselhaft erschien.
Folgsam hatte sich Don Antonio de Quintanilla gleich nach Abbruch der Reparaturarbeiten in seine Kammer begeben. Ächzend hatte er sich auf die Koje fallen lassen und alle viere von sich gestreckt.
Noch immer lag er regungslos und betrachtete seinen Bauch, der sich bei jedem Atemzug hob und senkte. Don Antonio fühlte sich so erschöpft wie selten zuvor. Wirklich harte Arbeit hatte er geleistet, und er war überzeugt, daß das auch anerkannt wurde. Den ganzen Tag über war er auf den Beinen gewesen, um die Listen zusammenzustellen, die Cubera brauchte.
Ein Grinsen huschte über die Wulstlippen de Quintanillas.
Cubera, dieser Einfaltspinsel, hatte sich tatsächlich beeindrucken lassen. Das folgerte nicht zuletzt aus der Tatsache, daß er den Posten vor der Kammer abgezogen hatte. Seit er sich hierher zurückgezogen hatte, lauschte Don Antonio immer wieder angespannt.
Aber da waren keine Schritte zu hören, die sich dem Schott seiner Achterdeckskammer näherten. Nun gut, es entband ihn von der lästigen Notwendigkeit, einen Aufpasser mit unauffälligen Mitteln aus dem Weg zu räumen.
Don Antonio verspürte einen unbändigen Appetit auf kandierte Früchte. Aber er mußte sich zwingen, seine Gedanken auf die wichtigeren Dinge zu konzentrieren. Sein Vorrat an Süßigkeiten war längst aufgebraucht. Zwar litt er keinen Hunger, denn die Verpflegung war hervorragend gewesen. Doch der Verzicht auf die Naschgewohnheiten gab ihm trotzdem das Gefühl, ein schmerzendes Loch im Bauch zu haben.
Mit aller Willenskraft konzentrierte er sich auf die Fäden, die er während der vergangenen Stunden gesponnen hatte. Er wußte, wie wichtig es war, noch einmal alles zu überdenken. Denn einen Fehler konnte er sich nicht leisten.
Der geringste Fehler bedeutete den sicheren Tod.
Nach dem Mordversuch würde Cubera nicht mehr mit sich spaßen lassen. Dann würde ihn auch der Gouverneursrang nicht mehr davon abbringen, ein Standgericht abzuhalten. Daher mußte alles reibungslos und ohne Zwischenfall ablaufen.
Die wichtigste Voraussetzung hatte Don Antonio durch seinen Arbeitseinsatz geschaffen. Cubera glaubte an seinen ehrlichen Einsatzwillen. Gut so.
In seiner Eigenschaft als „Listenführer“ hatte Don Antonio bereits in den Nachmittagsstunden seine Netze ausgeworfen – unauffällig, vorsichtig und doch wirkungsvoll. Für ihn gab es nur ein einziges Ziel:
Flucht!
Der einstmals stolze Kampfverband war dem Untergang geweiht. Daran gab es für den Gouverneur nicht den leisesten Zweifel. Der klägliche Rest an Schiffen hatte praktisch keine Chance gegen die Piraten. Nein, Don Antonio de Quintanilla wollte nicht sterben. Unvorstellbar der Gedanke, noch einmal an einem Kampfgeschehen teilnehmen zu müssen. Jegliches eigene Risiko für Leib und Leben mußte vermieden werden.
Tapferkeit vermochte Don Antonio nur dann vorzutäuschen, wenn er sich in den hintersten Linien einer Streitmacht wußte, die dem Feind mit absoluter. Sicherheit überlegen war.
Auch die Reichtümer der Piraten hatten jeglichen Reiz für ihn verloren. Jetzt ging es nur noch um das nackte Leben, und da mußte man alle anderen Überlegungen ausklammern. Das Totenhemd hatte eben keine Taschen.
Die geeignete Person für die Verwirklichung seines Vorhabens hatte Don Antonio mit untrüglichem Instinkt gefunden.
Der Schaluppenführer, ein Sub-Teniente namens Vicente de Pinzón, war haargenau der richtige Mann für das Unternehmen. Natürlich hatte Don Antonio es nicht als Fahnenflucht bezeichnet, was es im Grunde war. Seine vornehme Ausdrucksweise erlaubte den Gebrauch solcher Worte nicht. Und de Pinzón hatte denn auch offenbar genügend Bildung, um die Dinge nicht auf vulgäre Weise offen auszusprechen.
Don Antonio war beim Zusammenstellen der Listen aufgefallen, daß der Schaluppenführer beim Landungsangriff auf die Schlangen-Insel offenbar jene vornehme Zurückhaltung geübt hatte, die unter Umständen solcher Art nun einmal geboten war, wenn man ein Minimum an Wertschätzung für die eigene Person hatte. De Pinzón hatte sich beim Angriff jedenfalls nicht in den Vordergrund gedrängt und auf diese Weise die Schaluppe vor der Versenkung bewahrt. Sein Leben war ihm also erhalten geblieben.
Vicente de Pinzón war ein hagerer Mann mit verkniffenem Gesicht und eng zusammenstehenden Augen, die stechend und unruhig wirkten. Don Antonio ließ sich zum Teil auch von solchen äußeren Eindrücken leiten. Ein Mann von dieser Sorte war in der Lage, jeweils schnell und folgerichtig die für den eigenen Vorteil wichtigen Entscheidungen zu treffen.