Während der Weltmeisterschaft 1950 war es ganz besonders offensichtlich, dass der Sport nur ein Teil des großen Ganzen war. Zum ersten Mal, aber sicher nicht zum letzten Mal, sahen die brasilianischen Politiker das Turnier als eine goldene Möglichkeit, den Ruf unseres Landes aufzubessern – und natürlich auch ihren eigenen. Zu dieser Zeit wurde Brasilien nämlich noch vielerorts, in Europa und den USA zumindest, als rückständige Bananenrepublik wahrgenommen, in der Cholera und die Ruhr an der Tagesordnung waren und hauptsächlich Indianer und unkultivierte Ex-Sklaven lebten. Wenn sich das barsch und politisch unkorrekt anhört, dann nur, weil es das auch war. Allerdings war es eine Sicht der Dinge, die sogar viele brasilianische Würdenträger teilten, etwa der Bürgermeister von Rio de Janeiro, der erklärte, dass die WM die Möglichkeit biete zu beweisen, dass wir keine „Wilden“ seien. Brasilien könne sich mit den reichen Ländern der Welt messen – und sie sogar übertrumpfen.
Das war natürlich eine grob einseitige Sichtweise, da Brasilien mit seinen vielen positiven Eigenschaften in Wirklichkeit schon seit langem als charmanter Eigenbrötler existiert hatte. Tatsächlich ist auch die Geschichte unserer Unabhängigkeit eine, in der es um Verlockung und Verführung geht. Anders als der Großteil Südamerikas wurde Brasilien nicht von den Spaniern, sondern von den Portugiesen kolonialisiert. 1808 floh die portugiesische Königsfamilie vor Napoleons Truppen aus Lissabon und verlegte ihren Hof nach Rio de Janeiro. Somit waren sie die ersten Royals, die jemals eine ihrer Kolonien betraten und sogar dorthin zogen. Es sagt schon etwas aus, dass auch einige Vertreter der Königsfamilie – darunter Pedro I, der Sohn des Prinzregenten – sich entschieden zu bleiben, nachdem Napoleons Heerscharen keine Gefahr mehr darstellten.
Warum? Nun, ich war schon sehr oft in Lissabon, und es ist eine echt coole Stadt. Aber in Rio gibt es Strände voller Pulversand, wie Halbmonde geformte Buchten, üppig bewaldete Berge und wunderschöne, gastfreundliche Menschen. Pedro I konnte jeden Vormittag von seinem Palast aus eine kurze, von Palmen gesäumte Straße hinunterspazieren, um schnell mal in die Flamengo-Bucht zu hüpfen. Von dort konnte er dann den Anblick des Zuckerhuts genießen. Als ihm seine königlichen Verwandten 1822 schließlich einen Brief schrieben, in dem sie seine Rückkehr nach Portugal forderten, tat er das einzig Logische – er teilte ihnen mit, dass sie sich zur Hölle scheren sollten: „Fico!“ Er würde bleiben. Und so erlangte Brasilien seine Unabhängigkeit ohne jegliches Blutvergießen. Das genaue Datum war der 7. September, der Tag, nach dem sich meine erste Fußballmannschaft benannte. Der Tag ist auch heute immer noch als Tag des „Fico“ bekannt. Es ist eine nette Geschichte und keine Übertreibung. Schließlich muss man nicht ein Monarch sein, um Brasilien genießen zu können. Viele Millionen von Einwanderern zog es nach Brasilien, sie waren von den Möglichkeiten und Menschen verzaubert und beschlossen, sich niederzulassen. Aber die Geschichte von Pedro I gibt auch Aufschluss darüber, warum unsere Volksvertreter 1950 so aufgeregt waren. Seit der Unabhängigkeit war über ein Jahrhundert vergangen, aber politisch lag immer noch einiges im Argen. Seit „Fico“ war Brasilien von einer Krise in die nächste getaumelt und musste eine Reihe von Revolutionen, Staatsstreichen und regionalen Unruhen über sich ergehen lassen. Nur zwei Jahrzehnte zuvor hatte sich São Paulo vergeblich gegen die Regierung in Rio erhoben. Im Zweiten Weltkrieg kämpften brasilianische Soldaten tapfer auf der Seite der Alliierten für die Demokratie – um nach dem Krieg in eine Diktatur heimzukehren.
Als die Weltmeisterschaft nach Brasilien kam, bewegten wir uns langsam nach vorne, doch unsere Rolle in der modernen Welt schien noch immer unklar. „Brasilien war ein Land ohne Ruhm, das gerade eine Diktatur hinter sich gelassen hatte und noch unter den Nachwehen der Regierungszeit des Präsidenten Dutra litt“, schrieb Pedro Perdigão in seinem Buch über die WM 1950. Anders gesagt: Unsere Politiker hatten das Gefühl, etwas unter Beweis stellen zu müssen. Und sie zählten auf den Fußball, der ihnen dabei helfen sollte.
Außerdem spielte ein weiterer Abschnitt der brasilianischen Geschichte eine wichtige Rolle vor dem Turnier von 1950. Es ging um ein Kapitel, das der Familie Nascimento besonders am Herzen lag.
Auf Grundlage der Recherchen, die Journalisten im Verlauf der Jahre unternommen haben, nehmen wir an, dass unsere Vorfahren entweder aus dem heutigen Angola oder Nigeria stammten. Der Name Nascimento wiederum gehörte zu einer Farmer-Familie im Nordosten Brasiliens. Meine Vorfahren gehörten also zu den 5,8 Millionen Sklaven, die nach Brasilien verschleppt worden waren. Das sind schätzungsweise 20 Mal mehr, als in die USA verschifft wurden. Zeitweise gab es in Brasilien sogar mehr Sklaven als freie Menschen. Brasilien gehörte auch zu den allerletzten Ländern, die die Sklaverei abschafften. Dies geschah erst 1888 – über zwanzig Jahre, nachdem der Amerikanische Bürgerkrieg geendet hatte.
Die Sklaverei hatte also einen enormen Einfluss auf die Geschichte unseres Landes.
Fernando Henrique Cardoso, ein anerkannter Soziologe, der in den Neunzigern des vorigen Jahrhunderts Präsident von Brasilien wurde (und als solcher für ein paar Jahr mein Boss!), nannte es einst „die Wurzel der Ungleichheit in Brasilien“. In der Folge gab es bei uns keine Rassentrennung, wie sie etwa in den USA üblich war, weil sich die Menschen bei uns im Laufe der Zeit, nun ja, vermischten. Daher wäre es sehr schwer gewesen, festzulegen, ob nun jemand weiß oder schwarz war, und wer auch immer es tat, musste mit ernsthaften Kopfschmerzen rechnen. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Weißen und Schwarzen waren auch rar. Besonders als ich aufwuchs, hieß es regelmäßig, dass es sich bei Brasilien um eine „ethnische Demokratie“ handele. Sports Illustrated schrieb einst, dass ich glücklicherweise an einem der wenigen Orte auf der Welt lebe, wo die Hautfarbe keinen Effekt auf das Leben eines Menschen habe.
Allerdings war das nicht die ganze Wahrheit. Die befreiten Sklaven und ihre Nachkommen hatten ein schwereres Leben als die meisten anderen zu bewältigen. Obwohl es keine offizielle Diskriminierung gab, hatten schwarze Brasilianer oft keinen Zugang zu Schulen, Krankenhäusern und anderen Dingen, die einem das Leben erleichtert hätten. Die Armut, in der ich aufwuchs und die auch meine Eltern in ihrer Kindheit erlebt hatten, ist meiner Meinung nach auch ein Resultat unserer Geschichte, obwohl dies nicht immer offensichtlich war. Die Sklaverei war jedenfalls kein weit entferntes oder gänzlich abstraktes Konzept für meine Familie. Die Eltern meiner Großmutter Dona Ambrosina, die bei uns lebte, waren selbst noch Sklaven gewesen. Unsere Familie war stolz auf ihren Weg, und ich selbst war – und bin es immer noch – stolz, schwarz zu sein. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass in Brasilien damals wie heute Menschen mit dunklerer Haut ärmer sind als Menschen mit hellerer Haut.
Deshalb war Brasilien auch 1950 noch ein Land mit einer vorwiegend armen und mitunter verzweifelten Bevölkerung, die oft nicht genug zum Leben hatte. Dieses Bewusstsein verunsicherte brasilianische Politiker seit jeher. Vielleicht hilft es auch zu verstehen, warum die Hype-Maschinerie rund um die Weltmeisterschaft so hochtourig betrieben wurde. Letztlich wollten die Beamten in Rio nicht nur die Welt davon überzeugen, dass der Fortschritt nun Einzug hielt in Brasilien – sie wollten das auch mit aller Kraft vor allem ihrem eigenen Volk vermitteln.
Jahre später war es uns ziemlich peinlich, wie wir uns 1950 benommen hatten. Allerdings glaube ich, dass Dondinho nur wiederholte, was er im Radio gehört hatte, wenn er sagte: „Der Sieg ist unser!“ Solche Worte kamen aus dem Mund von Politikern – manchmal sogar in Form von direkten Befehlen an die Medien. Ganz Brasilien erlag dieser Propaganda, und sie wirkte sich auf unglückliche Weise auch auf die Vorstellung auf dem Rasen aus – und war etwas, das ich in meinem Leben immer wieder und wieder und wieder miterlebt habe.
- 10 -
Als unsere Freunde und Verwandten in unser Haus strömten, stellte ich meinem Vater noch eine Frage.
„Papa?“
„Ja, Dico?“
„Kann ich dich zu den Feiern in der Stadt begleiten?“
Aus dem Augenwinkel heraus konnte ich erkennen, dass meine Mutter heftig den Kopf schüttelte. Aber mein Vater tat so, als könnte er sie nicht sehen.
„In