„Wir werden hier gewinnen – oder sie werden uns töten!“
Gut, das war natürlich etwas überspitzt formuliert, doch er war sicher nicht die erste Person an diesem Tag in Brasilien, die sich zu einer Übertreibung hatte hinreißen lassen. Sein Team reagierte mit jenem Offensivdruck, den sich Obdulio erhofft hatte – und so folgte kurz darauf der Ausgleichstreffer. Wenig später war es Alcides Ghiggia, ein herausragender Rechtsaußen, der sich knapp zehn Minuten vor dem Schlusspfiff alleine vor dem gegnerischen Tor wiederfand.
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Die Stimme im Radio informierte uns: „Ghiggia passt den Ball zurück … Julio Pérez spielt den Ball tief auf den Rechtsaußen … Ghiggia läuft auf das Tor zu … er schießt. Tor. Tor für Uruguay! Ghiggia! Uruguays zweiter Treffer. Uruguay geht 2:1 in Führung … 33 Minuten sind in der zweiten Hälfte gespielt.“
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Womöglich spürte ich unsere bevorstehende Niederlage. Vielleicht erschreckte mich die Stille in unserem Wohnzimmer. Oder weil ich nur ein Kind war, verließ ich das Haus, um mit meinen Freunden zu spielen, bevor Uruguay zum zweiten Mal zuschlug. Wir droschen den Ball halbherzig durch die Gegend und feierten unsere eigenen Treffer. Aber wir wussten, dass die Dinge im Haus schlecht standen.
Kurze Zeit später schlurften die Freunde meines Vaters ins Freie. Ihre Gesichter sprachen Bände. Nun wusste ich natürlich, was Sache war. Ich legte den Ball auf den Boden, holte tief Luft und ging zurück ins Haus.
Dondinho stand mit dem Rücken zum Zimmer und starrte aus dem Fenster.
„Papa?“
Er drehte sich um, und Tränen rollten über seine Wangen.
Ich war fassungslos. Ich hatte Papa noch nie weinen gesehen.
„Brasilien hat verloren“, krächzte er, als würde es ihm Mühe bereiten, diese Worte auszusprechen. „Brasilien hat verloren.“
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„Niemals habe ich in meinem Leben Menschen so traurig erlebt wie die Brasilianer nach dieser Niederlage“, erinnerte sich Alcides Ghiggia, der Schütze des Siegtreffers, viele Jahre später. Mit etwas weniger Mitgefühl fügte er hinzu: „Nur drei Menschen vermochten es, das Maracanã zum Schweigen zu bringen – der Papst, Frank Sinatra und ich.“
Als der Schlusspfiff erklang, brachen Tausende Menschen auf den Tribünen in Tränen aus. Gott weiß, wie viele es in ganz Brasilien waren. Die Stimmung war so am Boden, dass sogar die uruguayischen Spieler, die auf Jules Rimet, den Präsidenten der FIFA und Vater der Weltmeisterschaft, warteten, damit er ihnen die wohlverdiente Trophäe überreichen konnte, nur noch in ihre Kabine laufen wollten. „Ich weinte mehr als die Brasilianer“, sagte Schiaffino, der das erste Tor erzielt hatte, „weil ich sehen konnte, wie sehr sie litten.“
Vor dem Stadion steckte eine wütende Menschenmenge einen Stapel Zeitungen in Brand – darunter wohl auch Exemplare, in denen Brasilien voreilig zum Weltmeistertitel gratuliert wurde. Das Stadion wurde nicht niedergebrannt, aber eine Statue des Bürgermeisters, die der vor dessen Toren hatte aufstellen lassen, wurde niedergerissen. Der abgeschlagene Kopf der Figur wurde in den nahegelegenen Fluss geworfen. Ein paar Stunden später schlichen die brasilianischen Spieler benommen aus der Arena. Viele wankten in umliegende Bars, wo manche von ihnen die nächsten paar Tage verbringen sollten. Friaça, der das brasilianische Tor geschossen hatte, wurde von einer Gruppe Fans erkannt. Sie begannen ihm die Namen der siegreichen uruguayischen Spieler hinterherzurufen: „Obdulio!“, „Ghiggia!“ Wie er selbst sagte: „Ich wusste, dass mich diese Rufe mein ganzes restliches Leben verfolgen würden.“
Und tatsächlich sollte der Schmerz in den nächsten Wochen und Monaten nur noch schlimmer werden. So laut der Hype auch gewesen sein mochte, das Wehklagen war noch lauter. Es war wie nach einem Krieg, den Brasilien verloren hatte und in dem viele Menschen gestorben waren. Die Niederlage wurde nicht nur den Unzulänglichkeiten von elf Spielern, sondern den Mängeln eines ganzen Landes angekreidet. Es war der Beweis, dass Brasilien zur Rückständigkeit verdammt war. Manche murrten, dass Brasilien nie die WM gewinnen und nie bei irgendetwas Großem würde mithalten können.
Sogar einige sehr seriöse Leute vertraten diese Ansicht. Der berühmte Anthropologe Roberto DaMatta bezeichnete die Niederlage als vielleicht größte Tragödie in Brasiliens neuerer Geschichte, da sie jeden davon überzeugt habe, dass wir eine Nation von Verlierern seien. Noch schlimmer, die Schmach ereignete sich genau dann, als das Land es wagte, sowohl im Sport als auch in puncto globalem Ansehen von internationaler Größe zu träumen. Wir hatten etwas riskiert, und es war auf schreckliche Weise schiefgelaufen. Jahre würden vergehen, bevor unser nationales Selbstvertrauen sich erholen würde. „Jedes Land hat seine unabänderliche nationale Katastrophe, so etwas wie Hiroshima“, schrieb Nelson Rodrigues, ein brasilianischer Sportjournalist. „Unsere Katastrophe, unser Hiroshima, war die Niederlage gegen Uruguay 1950.“ Ein anderer Journalist, Roberto Muylaert, verglich die grobkörnigen Schwarzweißaufnahmen von Ghiggias Siegtor mit dem Filmmaterial, das den Anschlag auf Präsident John F. Kennedy festhielt. Er meinte, dass beide „die gleiche Dramatik … den gleichen Bewegungsablauf und Rhythmus … die gleiche Präzision eines unaufhaltsamen Geschosses“ abbilden würden.
Einige Spieler des Teams von 1950 sollten noch Großartiges für ihre Vereinsmannschaften leisten, aber traurigerweise sollte nie einer von ihnen den Weltmeisterpokal in die Höhe stemmen. Viele grübelten noch auf ihrem Sterbebett über die entgangene Chance nach. Mein Lieblingsspieler Zizinho sagte, dass er seine Silbermedaille in der Ecke eines seiner Trophäenschränke aufbewahre und sie anlaufen lasse, bis sie schließlich schwarz sein würde. „Ich poliere sie nicht“, meinte er Jahre später. „In Brasilien ist es nichts wert, Zweiter zu werden. Da scheidest du besser auf dem Weg ins Endspiel aus.“ Und wenn er auch vergessen wollte, so ließen es doch die Menschen nicht zu. Jahrzehntelang musste Zizinho an jedem 16. Juli den Hörer neben das Telefon legen. „Ansonsten klingelt es den ganzen Tag“, murrte er. „Leute aus ganz Brasilien wollen von mir wissen, warum wir das Spiel um die Krone verloren haben.“
So schlimm das alles klingen mag, so gab es doch eine Gruppe von Spielern, denen man noch weniger verzeihen wollte – den schwarzen. In seinem berühmten Buch Der Neger im brasilianischen Fußball schrieb der Journalist Mário Filho, dass viele Brasilianer die Niederlage auf die „rassische Unterlegenheit“ unseres Landes zurückführten. Das war eine so alte wie abstoßende Theorie, keine Frage, aber es wurde alles nur noch schlimmer, da – rein zufällig – die zwei „Schwärzesten“, die damals für Brasilien aufliefen, unmittelbar in die Entstehungsgeschichten der beiden uruguayischen Treffer verwickelt gewesen waren. Bigode, der Verteidiger, der Schiaffino beim ersten Tor hätte decken sollen, wurde noch jahrelang als „Feigling“ beschimpft. Er zog sich zurück und vermied jeden Kontakt zu seinen Freunden aus dem Team von 1950, da er fürchtete, jemand würde das Spiel ansprechen. Und Barbosa, der Torwart … Mann, den Kerl traf es am härtesten.
Ich traf Barbosa oft in späteren Jahren. Er lebte in Rio und spielte noch bis 1962 auf Clubebene, bis er sich im relativ hohen Alter von 41 vom aktiven Sport verabschiedete, nachdem er viele Titel gewonnen hatte. Aber egal, was er auch tat, nie konnte er den Schuldzuweisungen, dem Hohn und dem Zorn entfliehen. Jahrzehnte später, 1994, wollte er das brasilianische Team auf ihrem Trainingsgelände in Teresópolis besuchen, weil er die Mannschaft vor der WM in den USA mit einer inspirierenden Rede verabschieden wollte, doch man verweigerte ihm den Zutritt, da man glaubte, er würde ihr „Pech“ bringen. Bevor er im April 2000 starb, sagte er zu mir und anderen: „In diesem Land ist die gerichtliche Höchststrafe 30 Jahre Gefängnis. Ich bin kein Verbrecher und habe bereits länger büßen müssen.“
Die Wahrheit ist, dass Brasiliens Niederlage nicht Barbosas Schuld war, auch nicht die eines anderen Spielers. Zizinho sagte, dass das überhebliche Geschwätz der Zeitungen „die größte Waffe