Ich konzentrierte meine nicht unbeträchtliche Energie auf das Fußballfeld. Dort mussten wir nicht über Armut, unsere Eltern oder tragische Ereignisse nachdenken. Auf dem Platz war niemand arm oder reich, dort konnten wir einfach nur spielen. Wir verbrachten unsere Tage damit, über das Spiel zu sprechen und es zu leben. Selbstverständlich hatten wir noch keine Ahnung, dass Fußball dem größten Spektakel, das je in Brasilien stattfinden sollte, bald eine Bühne bieten würde.
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Seit jeher hält kaum etwas die Menschen so in Atem wie die Weltmeisterschaft. Das Turnier versammelt alle vier Jahre Länder aus der ganzen Welt, um einen Monat lang zu spielen und zu feiern. Es ist eine Riesenparty, zu der die ganze Welt eingeladen ist. In den letzten 56 Jahren war ich bei jeder einzelnen, entweder als Spieler, Fan oder „Botschafter des Fußballs“, zu dem ich ernannt wurde. Aus Erfahrung kann ich besten Gewissens behaupten, dass es nichts Besseres gibt. Natürlich sind auch die Olympischen Spiele großartig, doch finden dort für meinen Geschmack zu viele verschiedene Wettkämpfe statt. Bei der Weltmeisterschaft dreht sich alles nur um Fußball. Es ist ein Turnier, das einem berauschenden Höhepunkt, dem Endspiel um die Krone im Fußball, entgegenstrebt.
Die Weltmeisterschaft ist mittlerweile eine solche Institution, dass es beinahe so scheint, als hätte es sie schon immer gegeben. Doch als 1950 die WM in Brasilien ausgetragen wurde, war sie noch ein relativ junges Konzept und stand mehr oder weniger auf wackligen Beinen. Die erste WM hatte 1930, also 20 Jahre zuvor, stattgefunden. Der Franzose Jules Rimet, der Präsident der FIFA, also des Weltfußballverbandes, entschloss sich, den immer beliebter werdenden Sport in die Auslage zu stellen. Sein Plan war es, alle vier Jahre ein Turnier zu veranstalten, das genau zwischen zwei Olympischen Sommerspielen stattfinden sollte. Er hoffte, dadurch das Ansehen der Nationalmannschaften zu stärken und außerdem einen Beitrag zur globalen Eintracht leisten zu können. Leider gab es damals nur männliche Auswahlmannschaften – etliche Jahrzehnte später hatte schließlich jemand die brillante und längst überfällige Idee, auch Weltmeisterschaften für Frauenteams auszutragen.
An den ersten paar Weltmeisterschaften nahmen so unterschiedliche Teams aus Ländern wie Kuba, Rumänien und Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien, genauso teil wie die bereits etablierten Supermächte des Fußballs, Brasilien und Italien. Die Weltmeisterschaft wurde immer prestigeträchtiger und zog immer mehr Zuschauer an, und 1938, als die WM in Frankreich stattfand, pilgerten zehntausende Menschen zu den Spielen. Jedoch kam es im Vorfeld des Turniers zu einigen schicksalsträchtigen Ereignissen. So musste das Team aus Österreich in letzter Minute seine Teilnahme absagen, da das Land drei Monate zuvor von Deutschland annektiert worden war. Die besten österreichischen Spieler wurden in die deutsche Auswahl berufen, die allerdings bereits in der ersten Runde vor einem feindlich gesinnten, mit Flaschen werfenden französischen Publikum ausschied. Es sollte leider nicht das letzte Mal bleiben, dass die Politik auf das Spiel übergriff.
Als im Jahr darauf der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde die Weltmeisterschaft – wie so viele andere Dinge – lange auf Eis gelegt. Der Krieg endete 1945, aber weite Teile Europas waren verwüstet. Der Wiederaufbau stand im Mittelpunkt, und es sollten noch Jahre vergehen, bis jemand es für möglich hielt, ein weiteres globales Fußballturnier zu organisieren. Für 1950 aber schien die Zeit reif, einen neuen Anlauf zu wagen, doch brauchte man ein Land, das den Krieg unbeschadet überstanden hatte und die entsprechende Infrastruktur bieten konnte. Somit kam Brasilien ins Spiel.
Als sich Brasilien bereiterklärte, die WM 1950 auszutragen, mussten einige Länder absagen, da ihnen schlicht die finanziellen Mittel fehlten, Teams nach Südamerika zu entsenden. Damals konnte man noch nicht so einfach um die halbe Welt jetten, eine Flugreise von Europa nach Brasilien konnte an die 30 Stunden dauern, während der man oft zwischenlanden musste. Das geteilte und besetzte Deutschland wurde von der Teilnahme ausgeschlossen. Das Gleiche galt für Japan. Schottland und die Türkei sagten kurzfristig ab. Letztlich kamen nur sechs Teams aus Europa, neben Südamerika die Hochburg des Fußballs. Das war natürlich sehr schade für sie – aber umso besser für Brasilien. Wir jagten immer noch unserem ersten Titel hinterher und dachten, dass er überfällig wäre. Nun, da die Konkurrenz überschaubar war und das Turnier auch noch bei uns zu Hause stattfand, war eigentlich alles angerichtet.
In Baurú, so wie auch überall sonst in Brasilien, waren alle im WM-Fieber. Vielleicht gar nicht so sehr wegen der WM an sich, aber wegen des bevorstehenden Titelgewinns. Ich war gerade erst neun, aber alt genug, um mich von der Stimmung anstecken zu lassen. Ich erinnere mich an die selbstbewussten Worte meines Vaters, die er immer wieder sprach, während wir vor dem Radio saßen und der Berichterstattung folgten: „Der Titel gehört uns, Dico!“
Meine Freunde unterhielten sich über Feiern und Paraden und stritten sich darüber, wer die Trophäe tatsächlich mit eigenen Augen sehen würde. Wir trugen unsere Spiele auf der Straße aus und stellten uns dabei als Weltmeister vor. Eigentlich war es ziemlich verblüffend, dass, egal wohin ich ging, niemand auf die Idee kam, Brasilien könnte das Turnier nicht als Sieger beenden.
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Eine neue Form der Energie rollte durch Brasilien. Jeder konnte es spüren. Die Menschen waren beschwingt von dem Verlangen, die Welt zu beeindrucken, was auch für abgelegene Orte wie Baurú galt, wo die WM nicht viel greifbarer als ein Gerücht war. Daher beschlossen wir Spieler von der Rubens-Arruda-Straße, ein Zeichen zu setzen und uns selbst zu einer ordentlichen Mannschaft – wie dem brasilianischen Nationalteam oder Dondinhos BAC – zusammenzuschließen. Wir brauchten eine ordentliche Ausrüstung – Trikots, Hosen, Schuhe und Strümpfe. Und selbstverständlich benötigten wir einen besseren Ball als den, den wir uns aus zusammengerollten Socken gebastelt hatten.
Die Sache hatte nur einen Haken. Wir waren komplett blank.
Ich schlug vor, die Mittel dafür aufzubringen, indem wir unsere Fußballaufkleber verkauften. Diese Sticker waren damals total angesagt – sie ähnelten Baseball-Karten –, und jeder von ihnen zeigte einen anderen Spieler und lieferte zusätzlich noch ein paar Daten zum jeweiligen Akteur. Ich dachte, wenn wir unsere Sammlungen zusammenlegen und uns auf die echt berühmten Teams aus Rio und São Paulo konzentrieren würden, dass diese Sammlung, in ein Album geklebt, tatsächlich etwas wert sein könnte. Unser Ziel war es, jemanden zu finden, der dieses Album gegen einen Lederball eintauschen würde.
Der Plan wurde rasch angenommen. Trotzdem waren wir noch meilenweit von unserem ehrgeizigen Ziel entfernt. Ein Junge namens Zé Porto schlug vor, dass wir die Differenz, die uns fehlte, dadurch wettmachen könnten, indem wir vor dem Kino und dem Zirkus geröstete Erdnüsse verkauften. Eine tolle Idee. Aber woher sollten wir die Erdnüsse nehmen. Wie sich herausstellte, hatte Zé Porto auch für dieses Problem bereits eine Lösung parat. Er grinste listig und regte an, die Erdnüsse aus einer der Lagerhallen an der Eisenbahnstrecke zu klauen.
Bei einigen von uns machte sich angesichts dieser Idee ein mulmiges Gefühl breit. Ich erinnerte mich, wie meine Mutter mir eingebläut hatte, dass Diebstahl eine der schlimmsten Sünden wäre. Ich spürte, dass die anderen Jungs das Gleiche dachten. Aber Zé Porto war ziemlich überzeugend. Er sagte, dass wir einfach einen der Frachtwaggons aufbrechen könnten, wenn es uns nicht gelänge, in die Lagerhallen zu kommen. Wer würde denn schon ein paar Tüten mit Erdnüssen vermissen?
Ergänzend sagte er: „Abgesehen davon, wer nicht dabei ist, ist ein großer Schisser!“
Nun, gegen diese Argumentation kamen wir nicht an. Also gingen wir alle wie auf Eierschalen runter zum Bahnhof. Als einer der inoffiziellen Anführer wurde ich von den anderen, zusammen mit einem weiteren Jungen, dazu auserkoren, in den Waggon zu steigen, um die Erdnüsse zu klauen. Ich hatte Bedenken, aber ich war bereit, alles für den Fußball zu geben.
Als wir in den Waggon kletterten, konnte ich vor meinem inneren Auge meine Mutter sehen, die mit verschränkten Armen traurig den Kopf über uns schüttelte. Allerdings war es nun zu spät, umzukehren. Wir schnitten die Säcke auf, und vor uns ergoss sich eine Flutwelle aus Erdnüssen auf den Holzboden. Wir steckten sie hektisch in unsere Taschen, unsere Hemden und den rostigen Eimer, den wir mitgebracht hatten. Schließlich – mir kam es vor, als wäre eine halbe Ewigkeit vergangen – flüchteten wir mit unserer Beute vom Tatort