Ich war erst neun Jahre alt, aber ich werde dieses Gefühl nie vergessen: die Euphorie, den Stolz und die Vorstellung, dass meine beiden größten Lieben – Fußball und Brasilien – sich nun im Sieg vereinen würden. Ich erinnere mich an meine Mutter und ihr Lächeln. Und an meinen Vater, meinen Helden, der so rastlos in diesen Jahren war, getrieben von seinen eigenen zerbrochenen Fußball-Träumen, wie er plötzlich wieder jung war und von Freude überwältigt seine Freunde umarmte. Es sollte genau 19 Minuten lang so bleiben.
Wie Millionen andere Brasilianer musste auch ich erst noch eine harte Lektion lernen: Im Leben, wie im Fußball, ist nichts vorbei, bevor der Schlusspfiff ertönt.
Ach, aber wie hätten wir das auch wissen können? Wir waren ein junges Volk, eine junge Nation, die ein junges Spiel spielte.
Unsere Reise hatte gerade erst begonnen.
- 2 -
Vor diesem Tag, dem 16. Juli 1950, einem Datum, an das sich jeder Brasilianer wie an den Tod eines geliebten Menschen erinnert, wäre es schwer denkbar gewesen, dass es etwas gäbe, das unser ganzes Land zusammenbringen könnte.
Die Brasilianer wurden damals durch viele Dinge getrennt – die enorme Größe unseres Landes etwa. Unsere kleine Stadt namens Baurú, die hoch auf einem Plateau im Staat São Paulo liegt, schien eine ganze Welt von der glamourösen Strand-Metropole Rio, in der das entscheidende Spiel ausgetragen wurde, entfernt zu sein. Rio war ganz Samba, Tropenhitze und Bikini-Girls – eben das, was sich Leute in aller Welt vorstellen, wenn sie an Brasilien denken. In Baurú hingegen war es am Spieltag so kühl, dass Mama sich entschloss, den Ofen in unserer Küche anzufeuern – ein Aufwand, von dem sie sich erhoffte, dass er unsere Gäste vor dem Erfrieren bewahren würde.
Wenn wir uns schon weit weg von Rio fühlten, so kann ich mir nur vorstellen, wie es meinen brasilianischen Landsleuten im Amazonasgebiet, den riesigen Sümpfen des Pantanal oder der felsigen, kargen Sertão im Nordosten gegangen sein muss. Brasilien ist größer als die kontinentalen USA, und damals fühlte es sich sogar noch größer an. Damals konnten sich nur die Reichen Autos leisten. Es gab auch nur wenige asphaltierte Straßen, auf denen man mit ihnen hätte fahren können. Jemals etwas anderes als unsere Heimatstadt zu sehen, war ein vager Traum, der nur für wenige wahr wurde. Ich sollte erst mit 15 zum ersten Mal das Meer sehen, geschweige denn ein Mädchen im Bikini!
Aber in Wahrheit war es nicht nur die Geografie, die uns trennte. Brasilien, das auf vielerlei Arten ein reicher Ort ist, der mit Gold und Öl und Kaffee und Millionen von anderen Gaben gesegnet ist, kam einem oft wie zwei verschiedene Länder vor. Die Tycoone und Politiker in Rio hatten ihre Villen, ihre Pferderennbahnen und ihre Strandurlaube. Auf der anderen Seite hatte in jenem Jahr, 1950, als Brasilien zum ersten Mal die WM veranstaltete, gut die Hälfte der Bevölkerung nicht ausreichend zu essen. Nur jeder Dritte konnte gut lesen. Mein Bruder, meine Schwester und ich gehörten zu jener Hälfte, die üblicherweise barfuß ging. Diese Ungleichheit war in unserer Politik, unserer Kultur und unserer Geschichte verwurzelt – ich war ein Teil der erst dritten Generation meiner Familie, die als freie Menschen zur Welt gekommen war.
Viele Jahre später, nach meiner aktiven Karriere, traf ich den großen Nelson Mandela. Von den vielen Menschen, die ich kennenlernen durfte – darunter Päpste, Präsidenten, Könige und Hollywood-Stars – beeindruckte mich keiner mehr als er. Er sagte: „Pelé, hier in Südafrika gibt es viele unterschiedliche Menschen, die viele verschiedene Sprachen sprechen. In Brasilien gäbe es so viel Reichtum und nur eine einzige Sprache, Portugiesisch. Wie kommt es, dass dein Land nicht reich ist? Warum ist dein Land nicht geeint?“
Ich konnte ihm damals keine Antwort geben und habe auch heute nicht wirklich eine. Aber während meines 73-jährigen Lebens konnte ich den Fortschritt verfolgen. Und ich denke, dass ich weiß, womit es anfing.
Die Menschen können den 16. Juli 1950 verfluchen, so viel sie wollen. Ich habe Verständnis dafür. Aber ich glaube, dass wir Brasilianer uns an diesem Tag auf unsere lange Reise zu einer größeren Geeintheit begaben. Damals versammelte sich unser ganzes Land um das Radio, feierte und litt gemeinsam. Zum ersten Mal als eine Nation.
An jenem Tag begannen wir, die wahre Kraft des Fußballs zu begreifen.
- 3 -
Meine frühesten fußballerischen Erinnerungen drehen sich um spontane Spielchen auf unserer Straße, die zwischen kleinen Backsteinhäusern und Schlaglöchern auf der Fahrbahn stattfanden. Ich schoss Tore, lachte wie ein Verrückter und rang nach kalter, schwerer Luft. Wir spielten stundenlang, bis unsere Füße wehtaten, die Sonne unterging und unsere Mütter uns nach Hause riefen. Keine schmucke Ausrüstung, keine teuren Trikots. Nur ein Ball – oder eben etwas Ähnliches. Darin liegt viel der Schönheit dieses Spiels.
Fast alles, was ich mit dem Ball anstellte, lernte ich von meinem Vater, João Ramos do Nascimento. Praktisch jeder in Brasilien kannte ihn auch unter seinem Spitznamen – „Dondinho“.
Dondinho stammte aus einer Kleinstadt im Staat Minas Gerais, was auf Deutsch „Allgemeine Minen“ bedeutet. Dort wurde in den Kolonialzeiten der Großteil von Brasiliens Gold gefördert. Als Dondinho meine Mutter Celeste kennenlernte, leistete er gerade seinen Wehrdienst ab. Sie ging damals zur Schule. Sie heirateten, als sie gerade mal 15 war. Mit 16 war sie mit mir schwanger. Sie gaben mir den Namen „Edson“ nach Thomas Edison, da 1940, als ich geboren wurde, die elektrische Glühbirne erst kürzlich Einzug in ihre Stadt gehalten hatte. Sie waren davon so beeindruckt, dass sie sich mit meinem Namen vor dem Erfinder verneigen wollten. Obwohl sich herausstellte, dass sie einen Buchstaben ausgelassen hatten, gefällt mir mein Name sehr.
Dondinho nahm seinen Dienst in der Armee sehr ernst, aber sein Herz gehörte dem Fußball. Er war über einen Meter achtzig groß, ein Hüne für brasilianische Verhältnisse, und sehr versiert am Ball. Er war besonders kopfballstark. Einmal gelangen ihm während eines Spiels unglaubliche fünf Treffer per Kopf. Das dürfte wohl noch immer ein nationaler Rekord sein. Jahre später erzählten sich die Leute, nicht ganz ohne zu übertreiben, dass der einzige brasilianische Tor-Rekord, den Pelé nicht innehat, von seinem Vater gehalten wird.
Es war sicher kein Zufall. Ich bin sicher, dass Dondinho einer der besten brasilianischen Spieler hätte sein können. Er bekam nur nicht die Chance, es unter Beweis zu stellen.
Als ich geboren wurde, spielte mein Vater auf halbprofessioneller Ebene in einer Stadt in Minas Gerais namens Três Corações, was „Drei Herzen“ bedeutet. Ehrlich gesagt verdiente er nicht sehr gut dabei. Ein paar der großen Clubs bezahlten damals ganz gut, aber die große Mehrheit tat das nicht. Fußballspieler waren mit einem gewissen Makel behaftet – so wie auch Tänzer, Künstler oder jeder andere Beruf, dem Menschen aus Liebe und nicht wegen des Geldes nachgehen. Unsere junge Familie zog von Stadt zu Stadt, von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck. Einmal lebten wir ein ganzes Jahr im Hotel, aber nicht in einem sehr luxuriösen. Später scherzten wir, dass es ein Null-Sterne-Resort für Fußballer war – genauso wie für Handelsreisende und Penner.
1942, kurz vor meinem zweiten Geburtstag, sah es so aus, als würden sich die Entbehrungen bezahlt machen, als würde Dondinho der Durchbruch gelingen. Er erhielt ein Angebot von Atlético Mineiro, dem größten und reichsten Verein in Minas Gerais. Es wäre ein Fußball-Job gewesen, mit dem er die ganze Familie hätte ernähren können, vielleicht sogar mehr als das. Mein Papa war 25, er hatte seine Karriere also noch vor sich, aber in seinem ersten Match gegen São Cristóvão, einem Team aus Rio, ereilte Dondinho ein Schicksalsschlag. Er krachte in vollem Tempo gegen einen gegnerischen Verteidiger namens Augusto.
Das war nicht das Letzte, was man von Augusto hören sollte. Er erholte sich und setzte seine Karriere fort. Traurigerweise war dieser Vorfall aber auch so etwas wie der Höhepunkt in der Spielerlaufbahn meines Vaters. Sein Knie war irreparabel beschädigt.