Die Gleichschaltung der Erinnerung. Eike Geisel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eike Geisel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862872367
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Hunger, beweist (obwohl u.a. durch ihn diese Zerstörung bewirkt wurde), daß es den Nazis auf mehr ankam, als die Menschen leiden zu lassen unter kreatürlichen Bedürfnissen, nämlich auf die Verwandlung von Individuen in willenlose Objekte anonymer Herrschaft. Das terroristisch erzwungene Einverständnis mit der Ohnmacht wie mit der Macht findet in der universellen Kälte einer Welt, die das in Kauf genommen hat und weiter nimmt, ihre zeitgemäße und wohlgenährte Entsprechung. Ihr Ideal: der schein­tote Überlebensexperte, der sich »durch nichts aus der Ruhe bringen läßt«, die Fliege im »Netz der sozialen Sicherung« (Helmut Schmidt). Aber nicht, daß damit bloß abstrakt die Fortexistenz »muselmannischen« Verhaltens behauptet wäre. Der moderne Autismus liefert dafür eine ganze Reihe von konkreten Beispielen – am deutlichsten an den Habitus des Muselmann gemahnen die Verhaltensweisen von drop-outs, den wie die Häftlinge in zweifachen Sinn Aufgegebenen; oder die Protagonisten lebensreformerischer Varianten der »Verweigerung«, Freaks, Flippis usw., die nahezu alle Symptome, vom apathischen Gang bis zum blinden Gesicht, aufweisen, die auch Bettelheim beschreibt. Aber wichtiger ist der Beitrag des KZ-Experiments zu einer allgemeineren anthropologischen Bestimmung der nachfaschistischen Gesellschaft, die in der oben bezeichneten smarten scheintoten Mittelstandsmonade Gestalt angenommen hat: war das unter menschlichen Bestimmungen gefaßte Dasein immer ein Protest gegen seine bloß natürlichen Bestimmungen, mithin (und vor allem!) gegen den Tod gewesen, so macht die Nachkriegsgeschichte aus dem ersten Entsetzen des Denkens in der Geschichte eine letzte triviale Wahrheit: Leben heißt stückweise sterben.

      Die moderne Sozialwissenschaft hat diesem Sachverhalt durch die Eliminierung der Begriffe Kindheit, Jugend etc. Rechnung getragen und sie durch biologisierende, subjektive Bezeichnungen wie Säugling, Kleinkind, Schulreife, Geschlechtsreife, Teenager, Twen, etc. ersetzt oder die Gesellschaft mit Begriffen aus dem Handelsregister in zwei Teile geschieden, Junioren und Senioren; Reduktion des Lebens auf’s bloße Älterwerden. Er lebt so vor sich hin – er stirbt so vor sich hin, der zeitgenössische Muselmann.

      »Der überwiegende Eindruck ist der, daß es mit dem Recht außerordentlich ernst und genau genommen wird … Wahrscheinlich ist dies auch einer der Gründe, weshalb die Angeklagten in den ersten Wochen gar nicht recht zu begreifen schienen, daß es in diesem Verfahren um ihren Hals ging. (Nr. 19, 9.10.45)«

      Hannah Arendt berichtet vom Eichmann-Prozeß Ähnliches. Der Beobachtung, daß Kommunisten und Kriminelle, oder Katholiken und Zeugen Jehovas der Identitätsstörung im KZ noch am ehesten und längsten widerstehen konnten, weil sie wegen Taten und Meinungen im Lager saßen, also von Nazis als für bestimmte Vergehen verantwortliche Personen betrachtet wurden, korrespondiert, daß sich die Täter (eher wie die unschuldigen und völlig harmlosen Opfer) als für nichts verantwortlich fühlen und die Bedrohung mit dem Tode (durch den Richterspruch) eher gelassen oder gar nicht zur Kenntnis nehmen, als für die begangenen Verbrechen einzustehen. Von Eichmann wird berichtet, daß er dem Vernehmungspersonal übereifrig geholfen habe, sich selber die Wahr­heit über seine verbrecherische Tätigkeit zu erzählen.

      »Als Ärztin kam die Zeugin auch nach Belsen. [Gemeint ist Dr. Ada Bimko, die von Auschwitz nach Bergen-Belsen kam. – EG] Als Kramer im Januar 1945 nach Belsen kam, so erklärte die Zeugin weiter, hatten sich die Verhältnisse in Belsen so verschlimmert, daß unter den Insassen gesagt wurde: ›Jetzt wird Belsen ein neues Auschwitz.‹ (Nr. 19, 9.10.45)

      Wegen geringfügiger Gesetzesübertretungen (!!) wurden auf dem Hof des gleichen Blockes täglich viele Menschen erhängt … Beim Ein- und Ausmarsch spielte jedesmal die Häftlingskapelle. Es kam vor, daß man auf die Melodie ›So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage‹ die armen Toten ins Lager zurücktrug. (ibidem) (Zeugenbericht über Auschwitz)

      … sie haben geschlagen und sind, wie Kramer, heute noch entrüstet, daß die armen Teufel, die krumm vor Schmerzen, Schwäche und Hoffnungslosigkeit waren, sich nicht ordnungsgemäß in Fünferreiehen aufstellen konnten. (23.10.45)

      Die Leutchen, die vor einigen Tagen den Angeklagten auf den Wagen Grüße zuwinkten, scheinen den tödlichen Ernst dieser Dinge für die Deutschen noch nicht begriffen zu haben. (ibidem)«

      Als wären diese justizpädagogischen Drohungen ein Mittel, das eine Mentalität zur Besinnung zwingen könnte, die noch kurz zuvor mit der jauchzenden Untergangsphilosophie »… und wenn alles in Scherben fällt« mit der Vernichtung anderer den eigenen Untergang diskontiert hatte.

      »›Sie wußten ganz genau, daß es ein Verbrechen war, was sie begingen.‹ – ›Nein.‹ – ›Haben Sie überhaupt jemals nachgedacht?‹ – ›Ich weiß es nicht, ich mußte den Befehl ausführen.‹ – ›Haben Sie selbst diese Leute in die Gaskammern hineingezwungen?‹ – ›Ja.‹ – ›Haben Sie selbst das Gas einströmen lassen?‹ – ›Ja.‹ … ›All dies ist geschehen, während Sie der Kommandant des Lagers Birkenau waren. Haben Sie niemals dagegen protestiert, dass Ihr Lager für diese Dinge benutzt wurde?‹ Kramer antwortete, er hätte sich einmal beim Obersturmbannführer Höß darüber beschwert, daß er nach Auschwitz geholt worden sei, er sei hier nichts weiter als ein Lagerführer für das Männer- und Frauenlager, und dazu hätte man ihn nicht nach Auschwitz holen brauchen. ›Ich habe Sie nicht gefragt‹, fiel Colonel Backhouse [Vertreter der Anklage. – EG] ein, ›ob Sie dagegen protestiert haben, daß man Sie in Ihrer Würde als Lagerkommandant beeinträchtigt hat, indem man Sie zum Lagerführer machte, sondern ob Sie dagegen protestiert haben, daß in Ihrem Lager Tausende von Menschen umgebracht wurden.‹ – ›Wenn ich das getan hätte‹, antwortete Kramer, ›so wäre ich verhaftet und selbst hinter Draht gesetzt worden.‹ (23.10.45)«

      Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein. Auch wenn der KZ-Kommandant im Unterschied zu Filbinger nicht nachgedacht hat, worauf der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg immer wieder hinweist und jeden Schritt als wohltaktierte Widerstandshandlung ausgeben möchte, so kommen doch beide zu denselben Äußerungen: konfrontiert mit ihren Verbrechen fällt ihnen immer gleich ihre Karriere ein. Filbinger klagt, daß er durch die Nazis »erhebliche Nachteile in meinem eigenen Fortkommen seit der Studienzeit erfahren« habe (Spiegel, 29.5.78) (und wie ich das eben schreibe, vernehme ich aus den Nachrichten, daß Filbinger auch nach dem Bekanntwerden weiterer Todesurteile, an denen er als Marinestabsrichter beteiligt gewesen war, keinen Grund sehe, von seinem Amt zurückzutreten. Dabei hätten alle, denen die so offen zutage getretenen Kontinuität deutscher Geschichte peinlich gewesen war, nun einen guten Anlaß gehabt, Filbinger wegen einer bloßen Lüge abzuhalftern und alles andere unter den Tisch zu wischen, aber sie erneuern, wie es aus dem Radio tönt, ihre Ehrenerklärungen für ihn. Fast hat es den Anschein, daß sie ihn eben deshalb für einen Ehrenmann halten), und Kramer denkt bei der Ermordung von Hunderttausenden an seine persönliche Not, die darin besteht, daß sein sog. laufbahnmäßiger Besitzstand angetastet und er zum Lagerführer rückgestuft wird.

      »Habt ihr das gewußt?

      ›Das hat der Führer nicht gewollt!‹ Natürlich sind es die ›kleinen Hitler‹ gewesen, die sich Übergriffe er­laubten in den KZ-Lagern, denn Hitler war selbst viel zu ›gut‹, viel zu ›edel‹ dazu!

      Wir stellen fest: Der deutsche General Dittmar, Pressechef des Oberkommandos der Wehrmacht, der Ende April 1945 in einem Ruderboot mit seinem Sohn die Elbe überquerte, um sich den Alliierten zu ergeben, hat in einer Radio-Ansprache erklärt: Heinrich Himmler habe 1944 im Frühjahr vor einer Generalstabsversammlung in einer Rede ausgeführt, der Befehl zur Erschießung der Juden sei der härteste Befehl gewesen, den er je auszuführen gehabt habe.

      Himmler aber hatte nur einen einzigen Vorgesetzten. Daher muß dieser ›härteste Befehl‹ ihm von Hitler selbst erteilt worden sein.

      Laßt euch nichts von alten Tanten und Naziagenten erzählen: Der größte Schurke war Hitler selbst. Er war der kaltblütige Mörder von Millionen von Menschen. So schlecht die ›kleinen Hitlers‹ auch gewesen sind – hundertmal schlimmer war der ›große‹ Hitler, groß im Verbrechen. (23.10.45)«

      Nach diesem frühen Schema sind die gängigen Erklärungsmuster und Rechtfertigungen der Nachkriegszeit hergestellt: Hitler als Oberschurke, verantwortlich für »Übergriffe« (wobei übrigens