Mit dem neuen Lagerkommandanten Josef Kramer, einem erfahrenen KZ-Fachmann, der es vorher bis zum Adjutanten des Auschwitz-Kommandanten Höß und zum Kommandanten des Lagers Auschwitz II (Birkenau) gebracht hatte, mit der systematischen Überfüllung, dem organisierten Hunger, den umfassenden Epidemien und Krankheiten, schließlich mit den ununterbrochenen Mißhandlungen war die Umwandlung von Bergen-Belsen in ein »regelrechtes« KZ und Vernichtungslager abgeschlossen. Wenige Tage vor der Übergabe des Lagers an die Engländer wurden die »Austauschjuden« in drei Zügen abtransportiert, und so wurde auch formal dokumentiert, daß das »Aufenthaltslager Bergen-Belsen« seit einigen Monaten – ohne daß die »Austauschjuden« eine bessere Behandlung als die anderen Insassen erfahren hätten – als Sammelstelle für die Evakuierungstransporte diente: als gigantischer Ablagerungsplatz für menschliches Rohmaterial, das nach dem Ausfall der Verwertungsanlagen nurmehr als Abfall betrachtet und behandelt wurde. Und wie eine Müllkippe fanden die Engländer das Lager vor: Tausende zu Leichenbergen aufgeschichtete tote Körper, Fäulnis, Verwesung, Gestank.
Bergen-Belsen zeigt im Unterschied etwa zu Auschwitz und dem bürokratisch kalkulierten Mord der Gaskammern, wie wenig dem vorherrschenden Perfektionismus der industriellen Massenvernichtung die historischen Mittel der Massenverbrechen fremd sind. Denn planmäßiger Hunger und gewollte Seuchen waren die Hauptursachen des Massensterbens im KZ Bergen-Belsen. Verglichen damit wurde kaum eine große Zahl von Häftlingen Opfer unmittelbarer persönlicher Gewaltanwendung von seiten des SS-Wachpersonals, durch Erschießungen oder Mißhandlungen.
Allein im März 1945 starben in Bergen-Belsen über 18000 Menschen oder kamen bereits tot mit den eintreffenden Transporten an; bis zur Befreiung des Lagers erhöhte sich die Zahl der durch Hunger und Fieberepidemien vernichteten Menschen auf 35000. Und nach der Befreiung starben weitere 13000 an den Folgen der Erkrankungen und Entbehrungen, trotz der medizinischen Hilfe der Engländer, die in den Arsenalen der Lagerverwaltung riesige Mengen zurückgehaltener Lebensmittel und Medikamente entdeckten.
Vom 17. September bis zum 16. November 1945 fand in Lüneburg vor einem britischen Militärgericht der Bergen-Belsen-Prozeß statt. Angeklagt waren 33 SS-Leute und 11 Häftlinge mit Aufsichtsbefugnissen, sogenannte Kapos. Ein großer Teil des SS-Wachpersonals blieb vollkommen unbehelligt, da die Engländer nur jene anklagten, die sie bei der Übernahme des Lagers vorgefunden hatten. Der Prozeß wurde auf der Grundlage der britischen Militärgerichtsbarkeit geführt, was heißt, daß die deutschen Angeklagten prozessual wie englische Soldaten behandelt wurden und ihnen individuelles Verschulden nachgewiesen werden mußte. 11 SS-Angehörige wurden zum Tod verurteilt, 11 weitere Angehörige des SS-Wachpersonals und 8 Kapos zu Freiheitsstrafen, 14 Angeklagte wurden freigesprochen.
Über den Bergen-Belsen-Prozeß findet man in den Lüneburger Bibliotheken kein einziges Buch. Eine Anfrage im Stadtarchiv nach Unterlagen über den Prozeß oder anderem zeitgeschichtlichen Material wurde knapp beantwortet: nach den Archivierungsvorschriften fallen das Konzentrationslager Bergen-Belsen und der Prozeß nicht unter Angelegenheiten, welche die Stadt Lüneburg betreffen.
In Bremke, einem kleinen Dorf in Südniedersachsen, in der Nähe von Göttingen, findet man an der Stelle der niedergebrannten Synagoge heute einen deutschen Vorgarten: Immergrün und Gartenzwerge. Mit liebevoller Gründlichkeit ist hier die Vergangenheit »aufgearbeitet« worden. In Lüneburg die kleinstädtische Variante der Politik des verbauten Gedächtnisses, die auf die Politik der verbrannten Erde folgt: noch die Erinnerung an die Erinnerung wurde getilgt. An der Stelle des 1976 abgerissenen Prozeßgebäudes, der alten Städtischen Turnhalle, befindet sich heute ein Parkplatz.
Nachtrag: Die einzige detaillierte Studie über das KZ Bergen-Belsen, das 1962 in Hannover erschienene Buch von Eberhard Kolb (»Bergen-Belsen«), ist längst vergriffen und wird – nach Auskunft des Verlags – in absehbarer Zeit nicht wieder aufgelegt. Eine gedrängte Zusammenfassung der Monographie von Kolb findet man in den »Studien zur Geschichte der Konzentrationslager«, Stuttgart 1970 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nummer 21, S. 130-153).
Einige wichtige Publikationen über den Nationalsozialismus waren ebenfalls über viele Jahre hinweg nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Zu einer Zeit, in der den Deutschen die von ihnen begangenen Verbrechen unter dem Markenzeichen HOLOCAUST so griffig und geläufig werden wie NIVEA und nach dem Muster eines beliebten TV-Spiels jedermann zur Mitwirkung an einer inszenierten Betroffenheit aufgefordert ist, zu einer Zeit, in der ein Hitler-Fest-Film und ein Hitler-Fest-Buch bestimmt nicht das Andenken eines Verstorbenen verunglimpfen, von dem Adorno gesagt hat, man wisse nicht genau, ob er tot oder entkommen sei, ist es angebracht, auf einige Wiederauflagen längst vergriffener Titel hinzuweisen:
Hannah Arendt, »Eichmann in Jerusalem«, Rowohlt-Taschenbuch 1978.
Eugen Kogon, »Der SS-Staat«, Heyne-Taschenbuch 1977.
Jean Améry, »Jenseits von Schuld und Sühne«, Klett 1977.
Rudolf Höss, »Kommandant in Auschwitz«, dtv 1978.
Gerhard Schönberner, »Der gelbe Stern«, Bertelsmann 1978.
Abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche6
I.
Einmal im Amt, besteht die Würde des deutschen Berufspolitikers vor allem in unbeugsamem Durchhaltevermögen. Jeder Mißgriff eine Verpflichtung zum Weitermachen, jede Blamage eine Aufforderung zur nächsten, jede Verletzung der politischen Moral ein Beweis der eigenen Unversehrbarkeit.
Anders als in Ländern, in denen der Tatsache, daß jemand Minister oder Senator wurde, immer noch Wenigstens der Schein persönlicher Tüchtigkeit und individuellen Erfolgs anhaftete – Prädikate, derer man im politischen Geschäft ebenso rasch verlustig gehen konnte, wie man sie im wirklichen Geschäftsleben errungen hatte –, anders als in diesen Ländern sind Politiker in Deutschland schon immer staatliche Einrichtungen gewesen. Ihr Profil gewannen sie am Schwungrad des etatistischen Räderwerks, ihre Physiognomie war identisch mit der ihnen zugedachten Aufgabe: Als Scharnier der Staatsmaschinerie hatten sie vor allem zu funktionieren.
Bis heute sind die deutschen Politiker, von unglücklichen Ausnahmen abgesehen, nur die Anhängsel einer Sache, mit der sich die Sozialwissenschaften seit über hundert Jahren abmühen: Sie sind Funktionäre eines mittlerweile überdimensionalen Apparats. Nie der gewandte und wortgewaltige Repräsentant einer gesellschaftlichen Klasse, der es verstünde, noch das partikularste Interesse als große politische Idee feilzubieten, kennt der deutsche Politiker nur eine Tugend, welche er mit dem Sprachungetüm »Treuepflicht« auch gleich zur Richtschnur öffentlichen Handelns erhoben hat: Ein jeder Krise, jedem politischem Wolkensturm die Stirn bietendes Beharrungsvermögen, gleichgültig gegen jeden Inhalt, robust und zählebig. Politiker haben in der Regel eine hohe Lebenserwartung; wie meist der General den Gefreiten, so überlebt der Minister seinen Chauffeur. Weltläufigkeit, Eleganz, Bildung und Geschmack, savoir vivre wie dégoût für die Banalitäten des politischen Kleinkrams waren in Deutschland nie die einer politischen Karriere förderlichen Attribute; im Gegenteil: Der von jenen Zutaten gereinigte, aber dadurch um nichts weniger gesellschaftliche Stoff, aus welchem die Politiker der letzten Jahrzehnte ihre eigentümliche Immunität und Resistenz bezogen haben, dieser Stoff ist das Gleitmittel moderner Herrschaft. Er ist ein Amalgam aus Knechtsmentalität und dem ziellosen Hunger nach entleerter Macht. Wird er, wofür eine ausgeklügelte Laufbahnordnung sorgt, in der richtigen Dosierung verabreicht, so wird aus dem kleinen Befehlsempfänger, der nur im Bett von den Schalthebeln der Macht träumen kann, nach einer strapaziösen Bewährungsfrist ein Stadtdirektor, ein Ministerialbeamter, ein Staatssekretär, ein Minister und manchmal auch ein Kanzler oder ein Bundespräsident. Ihre Lebensläufe gleichen einander wie künstliche Wasserstraßen, und wer es auf diesen vertikalen Kanälen nicht frühzeitig zum Kapitänspatent bringt, bleibt sein Leben lang der von den Erfolgreichen abschätzig belächelte Kanalarbeiter. Kaum eine steile Karriere, selten ein großer Intrigant, kaum eine Persönlichkeit, nie ein Hasardeur, manchmal ein Überzeugungstäter, aber nie ein Staatsmann.
Friedrich der Große, von dem der ominöse Glaubensartikel des verstaatlichten Politikers formuliert wurde: »Ich bin der erste Diener