Die Gleichschaltung der Erinnerung. Eike Geisel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eike Geisel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862872367
Скачать книгу
drückt sich kein irrationales Festhalten an alten Vorurteilen aus, sondern es sucht sich die abstrakte Wut der Massen über die Erkenntnis, daß es auf keinen von ihnen ankommt, ein konkretes Objekt. In einer sprachlichen Sonderbehandlung sollen diesem die letzten menschlichen Bestimmungen ausgetrieben werden. Zum Ding, zum Tier, zu Dreck und Gestank gemacht, wovon nicht allein die grassierenden Witzeleien Zeugnis ablegen, erscheinen die Türken als Objekt einer notwendigen und legitimen Säuberung der Gesellschaft. Dem antitürkischen Witz kommt dabei die Funktion zu, den angeblich gefährlichen Feind in schwache, verfolgte Opfer zu verwandeln. Die Nichtswürdigkeit der Opfer steht symbolisch für den jämmerlichen Protest, den die Witzbolde gegen ihre eigene Nichtigkeit erheben. Im antitürkischen Vernichtungshumor, der auf augenfällige Weise die Antiquiertheit des Begriffs vom Vorurteil demonstriert, ist deshalb Auschwitz immer präsent. Er ist durchweg nach dem Muster des Graffiti gewirkt, das die wachsende Bedeutung der öffentlichen Toiletten als seelische Bedürfnisanstalten dokumentiert: »Was die Juden hinter sich haben, das haben die Türken vor sich.« Die Witzbolde wollen schnell zur Sache kommen, doch der blutige Ernst, den die vernichtungsbereiten Paranoiker mit standardisiertem Haß beschwören, läßt auf sich warten. Und darum lebt das angedrehte Gelächter der versagenden Gegenwart auch von der Erinnerung an eine erfüllte Vergangenheit.

      II.

      Marx bemerkt in seiner Einleitung »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, die Deutschen hätten in ihrer Geschichte immer nur die Restauration der anderen Völker geteilt, nie aber deren Revolutionen. Dieses Resümee war, wie man heute sieht, leider auch eine futurologische Prognose. Das Neue war das Immergleiche, es gab keine Revolutionen, stattdessen Reprisen. Bei diesem immerwährenden Dakapo erwiesen sich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit als monotone und besonders zählebige Grundströmung: sie sind das Ostinato der neueren deutschen Geschichte.

      Staatliche Gratifikationen für die Massen, wie etwa die Sozialreformen Ende des letzten Jahrhunderts, oder schließlich die Integration der organisierten Arbeiterbewegung in das Regelsystem der Macht, waren ein allzu dürftiger Ersatz für das versprochene Paradies auf Erden. Deshalb sollte es im Diesseits wenigstens eine richtige Hölle geben – für die Juden, die Fremden, die Ausländer, an denen sich die Abgerichteten wieder aufrichten konnten. Nur endete dieser Vertrag der sozialen Wut mit der Macht regelmäßig in einem Fiasko: die Opfer, an denen man sich schadlos halten wollte, wuchsen zu Leichenbergen an, doch die Massen hatten nichts davon. Weil sie wußten, daß ihre eigene Niederlage schon im voraus beschlossen war, sollte es vor ihnen noch die anderen erwischen. Die Volksgemeinschaft brüllte diese Erkenntnis schließlich in die ganze Welt hinaus: »Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt...«

      Heute müssen sich die Deutschen mit einer Notlösung begnügen: der Haß auf die Ermordeten hat diese überlebt, je nach Konjunkturlage geht er gegen die Toten, gegen Amerika, gegen Israel; und weil die Siegermächte einen dritten deutschen Weltkrieg für immer vereitelt haben, muß sich der fortdauernde Groll gegen das Ausland mit den Ausländern behelfen.

      Unter diesem Blickwinkel betrachtet eignet der jüngeren deutschen Geschichte eine eigentümliche Resistenz gegen jede Niederlage. Die Folgen rehabilitierten jeweils die Voraussetzungen, niemals gab es einen Neuanfang, sondern immer nur den Wiederaufbau. Dieser bezog seine Dynamik nicht aus dem radikalen Bruch mit dem Alten, sondern aus der Nähe zu ihm: seit es kein Propagandaministerium gibt, wetteifern die Massenmedien mit den Regierungssprechern; nach der Abschaffung einer alles durchdringenden Geheimpolizei ist nach dem Muster der beliebten TV-Sendung »Aktenzeichen XY ungelöst« all­mählich ein freiwilliger kollektiver Spitzel entstanden; an der Nahtstelle von Masse und Macht befindet sich heute kein Blockwart, sondern der als Kontaktbereichsbeamte sehr viel präziser bezeichnete Funktionsträger bürgernaher Herrschaft.

      Mit den Ideologien verhält es sich nicht anders. Die Deutschen sind heute nicht etwa trotz, sondern wegen Auschwitz Antisemiten. Wegen Auschwitz halten sie sich für das neue auserwählte Volk, für die Juden unter den Nationen der Welt, denen als Volk der atomare Holocaust drohe. Nicht zufällig kehren die paranoiden Verschwörungsprojektionen wieder bei den Versuchen, die deutsche Geschichte wiedergutzumachen, einem Unternehmen, bei dem sich die literarischen Konkursverwalter der Protestbewegung besonders hervorgetan haben.

      Ein Beispiel von vielen ist der unter dem Namen Gerd Bergfleth wiederauferstandene Eugen Dühring, der bereits vor Jahren eine feuilletonistische Umwälzung der Wissenschaft vorlegte, die zu einer Neufassung des – schon immer falschen – Diktums von Bebel zwingt, der Antisemitismus sei der »Sozialismus des dummen Kerls«. Bergfleth schreibt: »Den entscheidenden Faktor der Linkswende (in der neuen Aufklärung nach dem Kriege) aber bildete die zurückgekehrte deutsch-jüdische Intelligenz, die eine letzte Chance erhielt, Deutschland nach ihren weltbürgerlichen Maßstäben umzumodeln – ein Prozeß, der so vollständig gelang, daß für zwei Jahrzehnte von einem eigenständigen deutschen Geist nicht mehr die Rede war.« Der eigenständige deutsche Geist hat, wie Bergfleths »Kritik der palavernden Aufklärung« demonstriert, nicht nur Kriegsniederlage und Reeduca­tion überlebt, sondern genau daraus seine ihm eigenen Qualitäten bezogen: »Es ist auffällig, daß das aufklärerische Judentum in der Regel keinen besonderen Sinn für das besitzt, was deutsche Eigenart ist, etwa die romantische Sehnsucht, die Verbundenheit mit der Natur oder die nicht auszurottende Erinnerung an eine heidnisch-ger­ma­nische Vergangenheit.«

      Das ist der alte Frontbericht vom Kampf der deutschen Eigenart gegen die palavernde, das heißt mauschelnde Aufklärung, die pikanterweise als – vergebliche – Bemühung bezeichnet wird, das germanisch Unbewußte auszurotten – ein Gedanke, der im neo-patriotischen Kulturkampf gegen die »Kolonialisierung der Köpfe« seinen Platz hat. Insofern muß Bebels Definition revidiert werden: der Antisemitismus heute ist der Antiimperialismus des Paranoikers.

      Die antijüdischen Begleiterscheinungen bei der Rehabilitierung der deutschen Wehrmacht in Bitburg waren nur das vorerst letzte Beispiel für die Fortzeugung dieser Haltung, die ein israelischer Publizist auf die folgende Formel gebracht hat: »Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen.«

      Den von Grillparzer formulierten Dreischritt: »Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität« haben die Deutschen längst hinter sich, die Alternative »Sozialismus oder Barbarei« ist entschieden. Seither gibt es nur noch Remakes, die den Strophen im Endloslied vom Mops, der in die Küche schleicht, gleichen. Dies macht auch die zeitliche Fixierung und die soziale Lokalisierung von rassistischen Äußerungen so schwierig für den Fall, daß man einmal vergißt, deren Quelle exakt zu notieren. Sie sind meist so austauschbar, daß für einen völlig Außenstehenden der erste literarische Kontakt mit der neueren deutschen Geschichte verwirrend sein muß: warnte Wilhelm II. vor der Islamisierung Deutschlands und der CDU-Fraktionsvorsitzender Dregger vor der »gelben Ge­fahr«?

      Alle Grenzen verwischen sich angesichts der Ausländer, und man begreift allenfalls, daß die Geschichte der Humanität in Deutschland die Geschichte des Aufstiegs von Gustav Noske zu Heinrich Lummer ist. Vom Sozialdemokraten Noske ist der geflügelte Ausspruch der Konterrevolution: »Einer muß der Bluthund sein« überliefert, mit dem er 1919 den Auftrag gab, die Revolutionäre niederzukartätschen. Vom Christdemokraten Lummer wurde eine analoge Sentenz nicht berichtet, als in der Silvesternacht 1983 sechs Ausländer unter der Aufsicht des Wachpersonals in einem Abschiebegefängnis verbrannten. Lummer war weniger lakonisch: »Da es leider keine Möglichkeit gibt, mit drastischen rechtlichen Mitteln vorzugehen, müssen wir eine Reihe von anderen Maßnahmen überlegen.« Mangels revolutionärer Umtriebe muß sich der ehemalige Westberliner Innensenator damit zufrieden geben, in einem anderen Fach den Noske zu geben: in der Fremdenfeindlichkeit.

      Noske war auf diesem Gebiet schon vor dem ersten Weltkrieg zu einem Experten herangereift. In einer Reichstagsdebatte 1909 wandte er sich als Sozialdemokrat gegen die Beschäftigung von Schwarzen und Chinesen auf Schiffen des Norddeutschen Lloyd: »So weit geht unsere Solidarität nicht, daß wir den Chinesen alles Gute wünschen, während unsere eigenen Arbeiter auf der Straße liegen bleiben; wir erklären, daß uns natürlich das Hemd näher ist als der Rock, daß in erster Linie dafür zu sorgen ist, daß der deutsche Arbeiter unter annehmbaren Existenzbedingungen zu leben hat, und wenn das erreicht ist, wollen wir allerdings den Chinesen gern dazu helfen, zu einer höheren Kulturstufe zu