Die Gleichschaltung der Erinnerung. Eike Geisel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eike Geisel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862872367
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Fronvögte« – wie es damals hieß – nicht greifbar waren, hielten sich die »Unterlinge« – wie es heute (bei Hochhut) heißt – an die Ostjuden, von denen das »besetzte Land« ersatzweise befreit werden sollte; und 1938 konnte man über das Berliner Scheunenviertel, das mittlerweile »befreites Gebiet« war, in der bebilderten Rückschau einer Nazibroschüre lesen: »In dem von Ostjuden besetzten Gebiet Berlins mußte sich der Deutsche wie im Feindesland fühlen. Er wurde beobachtet, umlungert, verfolgt.«

      Dem Haß auf die Ostjuden korrespondierte aber auch ein bis zur Hochstimmung gesteigertes Interesse an ostjüdischer Kultur. Von der Euphorie, mit welcher ostjüdische Tradition von einem – sehr kleinen und meist aus Intellektuellen bestehenden – Teil der deutschen Juden rezipiert und spöttisch nach einem ihrer Hauptergriffenen Bubertät genannt wurde, soll hier nicht die Rede sein, sondern von der Faszination, die sie auf die nichtjüdischen Deutschen ausübte. Auf die Ostjuden wurde dabei projiziert, was die Deutschen sich anschickten herzustellen: die Volksgemeinschaft. Aus der Vorstellung des wan­dernden Juden wurden die Veranstaltungen des marschierenden Deutschen, aus dem Bild der völkischen Reinheit und der Vermehrungsfreudigkeit, an dem beispielsweise auch Bebel Gefallen gefunden hatte, wurden die Nürnberger Gesetze und die Nazistiftung für Mutter und Kind, der Lebensborn.

      In einer Eloge auf den Maler Hermann Struck, den er während des Ersten Weltkriegs in Wilna kennengelernt hatte, schrieb ein begeisterter Deutscher: »Ich erlebte an ihm und an der Umwelt die Kraftquelle des Judentums, die es über die Diaspora der Jahrtausende erhalten hat: die Einheit von Volkstum und Religion, Nationalität und Glauben und erlebte zugleich die dichte, völlig unzersetzte Atmosphäre, die hier noch um Gottesdienst und religiöses Handeln, um Kult und liturgische Bräuche waren. Die Stärke des Ostens gegenüber dem vielfach zerfallenen Westen wurde hier im jüdischen Bereich fühlbar.«

      Ganz ähnliche Motive liegen der modischen nostalgischen Beschäftigung mit der Geschichte der Ostjuden heute zugrunde. Dieses Interesse ergänzt das jahrelang offiziell gehegte Stereotyp von den deutschen Juden als allesamt nobelpreisverdächtig durch ein analoges Klischee: aus Einstein wird Tewje, der Milchmann. Man trifft in jeder nächstbesten Wohngemeinschaft auf die verklärenden melancholischen Photographien von Vish­niac als Poster und muß sich die neueste Platte mit jiddischen Liedern anhören mit dem Hinweis, sie sei von einer deutschen Gruppe, die aus der »Liedermacherbewegung« komme, produziert. Dieser Zusammenhang ist nicht zufällig: die mörderische Vergangenheit wird als Kulturgeschichte begriffen. Daß Menschen dabei umgebracht worden sind, spielt allenfalls am Rande eine Rolle, wie das Wort vom »Ethnozid« oder vom »kulturellen Holocaust« verrät. Da die ostjüdische Kultur hierdurch außerdem grenzüberschreitend mit der deutschen wiedervereinigt und regermanisiert wird als Teil einer untergegangenen Kulturvielfalt – im Unterschied zur beklagten Kolonialisierung durch die Coca-Cola-Kultur –, sind die Opfer eigentlich die Deutschen, denen man etwas getan hat, als die Juden umgebracht wurden. So werden aus sinnlos Ermordeten sinnstiftende Tote, die das Lebens­ge­fühl der deutschen Selbstfindung stärken.

      III.

      Vierzig Jahre nach Kriegsende befinden sich die Deutschen nach den Worten ihres Bundespräsidenten an der Schwelle zum gelobten Land: »Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt mit dem Einzug ins verheißene Land begann. Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.« Diese ausgeborgte Ver­heißung hatten die Deutschen nach der internationalen Blamage ihrer Versöhnungsfeiern 1985 bitter nötig, denn Bitburg und Belsen stehen nicht für ein vierzigjähriges Pariadasein der Bundesrepublik, das nun zu Ende ging, sondern dort wurde der Bankrott der deutschen Nach­kriegspolitik offenkundig. Vierzig Jahre nach der militärischen Kapitulation des deutschen Reichs legte die Republik ihren moralischen Offenbarungseid ab; wozu es damals der alliierten Armeen und besserer Waffen bedurft hatte, das wurde 1985 von einer der gleichgeschalteten Meinung in der Bundesrepublik unbekannten Wunderwaffe erzwungen: der Waffe der Kritik und einer funktionierenden Öffentlichkeit im demokratischen Ausland, welche die Selbstdarstellung des »neuen Deutschland« als Propagandalüge entlarvten.

      Dem religiös verbrämten optimistischen Schwindel, die deutsche Nachkriegsgeschichte sei eine zweite jüdische Heilsgeschichte, korrespondiert die antiimperialistische Paranoia, die Deutschen seien das auserwählte Volk einer Verschwörung der Supermächte. Wie um Hitler ein zweites Mal recht zu geben, daß sich das Schicksal Deutschlands an der Judenfrage entscheide, kaprizierten sich die Deutschen in einer absurden Verwechslungskomödie auf die Rolle des eingebildeten Juden.

      Die neuerdings auf Traditionen, Mythen und Symbole versessene Gesellschaft braucht derlei Mutationen, um dem trivialen Geheimnis ihrer Herkunft nicht auf die Spur zu kommen. Die Deutschen hätten den Brand in der Westberliner Abschiebehaftanstalt nicht nur als pädagogische Maßnahme präsentieren dürfen, um potentielle Asylsuchende in aller Welt abzuschrecken, sondern auch als Jubiläumsveranstaltung für die hundertjährige Geschichte des Rassismus in Deutschland. Über eine andere Berliner Silvesternacht ungefähr 100 Jahre zuvor, berichtete Eduard Bernstein in seiner »Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung«: »Organisierte Banden zogen in der Friedrichsstadt vor die besuchteren Cafés, brüllten, nachdem allerhand Schimpfreden gehalten worden waren, tatkräftig immer wieder ›Juden raus‹, verwehrten Juden oder jüdisch aussehenden Leuten den Zutritt und provozierten auf diese Weise Prügelszenen, Zertrümmerung von Fensterscheiben und ähnliche Wüsteneien mehr.«

      Immerhin gab es damals noch eine spontane Protestversammlung der Berliner Arbeiterklasse, welcher der Gedanke des »Kommunistischen Manifests«, die Arbeiter hätten kein Vaterland, noch nicht ausgetrieben oder in sein Gegenteil, die Aufforderung zum glühenden Patriotismus, verkehrt worden war.

      Der historische Pogrom und der aktuelle Brand, die damalige handgreifliche Bürgerinitiative und der tödliche Verwaltungsvollzug von heute, markieren nicht nur die Entwicklung der Instrumente, die zum Arsenal des völkischen Ressentiments gehören, sondern sie reflektieren auch die zwei Seiten eines gesellschaftlichen Bündnisses, das ungebrochen fortbesteht: das Bündnis von Mob und Elite, der Vertrag zwischen Antisemitismus, Fremdenhaß und Macht. Diese Übereinkunft schließt eine Arbeitsteilung ein, die sich auch nach der Demokratisierung von Mob und Elite erhalten hat. Während die Rollkommandos gewissermaßen empirische Sozialforschung treiben, um durch teilnehmende Beobachtung herauszufinden, ob sich etwa einer rührt, ist man in den Büros mit der Auswertung beschäftigt; dort formalisieren und normieren Wissenschaftler, Verwaltungsexperten und Politiker die rechtsetzende Praxis jener gewalttätigen Demoskopie. Über die Bedeutung des Unterschieds zwischen unkontrollierten Ausbrüchen des Hasses und behördlich kalkulierter Diskriminierung sind sich die modernen Machthaber einig. Hitler empfahl schon in seinen ersten politischen Erklärungen, den Antisemitismus aus »rein gefühlsmäßigen Gründen« durch einen »Antisemitismus der Vernunft«, d.h. durch systematisch entrechtende Verwaltungsakte zu ersetzen, und wie man weiß, waren blutrünstige Sadisten bei der industriellen Massenvernichtung nicht erwünscht, sondern korrekte Beamte.

      Wenn heute Politiker in der Bundesrepublik vor Ausländerfeindlichkeit warnen, dann ist diese Warnung in der Regel ein Symptom der Krankheit, die sie diagnostizieren. Wenn ein Kommentator der liberalen Frankfurter Rundschau das rassistische Manifest einiger Treitschkes von heute, die öffentlich die Ausweisung der Ausländer fordern, für eine »überwiegend vernünftig formulierte Diskussionsgrundlage« hält und meint, »daß das Ausländerproblem in der Bundesrepublik öffentlich mit kühler und humaner Vernunft angepackt werden kann«, dann hört sich das wie eine Drohung an. Sie kommt der Vorstellung vom Krieg ohne Haß ganz nahe, deren Verwirklichung Adorno als vollendete Inhumanität bezeichnet hat und stellt eine Neuauflage des Traums dar vom noblen Antisemitismus, den Hans Blüher, einer der Wortführer der deutschen Jugendbewegung nach dem ersten Weltkrieg, träumte: »Darum ist reiner Antisemit nur der, der ohne Haß gegen die Juden ist.«

      Kein Träumer hingegen ist der gegenwärtige Bundeskanzler. Es mag noch so tollpatschig aussehen, wenn er sich auf der politischen Bühne bewegt und noch so debil klingen, wenn er den Mund aufmacht – er verkörpert die ungebrochene Fortdauer politischer Herrschaft, die im Deutschland des 20. Jahrhunderts schon ganz andere Gestalten sich ausgesucht hat. Als nach der Demokratisierung der Elite austauschbarer Repräsentant aller Unmündigen