Die Gleichschaltung der Erinnerung. Eike Geisel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eike Geisel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862872367
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Tage nach seinem Amtsantritt kündigte Kohl im Fernsehen an, seine Regierung werde sich mit der »Ausländerfrage« beschäftigen, denn er gäbe eine »zu große Zahl türkischer Mitbürger«. Für deren Rückführung wolle er sich einsetzen, doch solle dies »menschlich anständig« geschehen. Mit diesem aktuellen Ausdruck des Bündnisses zwischen Volksempfinden und Verwaltung gelang dem Kanzler auch eine unvermeidliche Reprise: in einer Rede vor SS-Führern in Posen hatte Himm­ler 1943 den gestreßten Gehilfen des Massenmords bescheinigt, daß sie »abgesehen von Ausnahmen mensch­licher Schwächen, anständig geblieben« seien. Abgesehen von einem kleinen Silvesterumtrunk waren auch die Wachleute des Berliner Abschiebegefängnisses anständig geblieben. 1984 wurde das Ermittlungsverfahren gegen sie mit der Begründung eingestellt, es habe sich »kein pflichtwidriges Verhalten der vier Beamten erkennen lassen.«

      Die allgemeine Enttäuschung darüber, daß man die Ausländer nicht so einfach anzünden kann wie vordem die Juden, weil es sich zumeist um Bürger mit dem Paß eines Nato-Mitgliedstaats handelt, entlädt sich periodisch in Brandstiftungen an Ausländerunterkünften und treibt die bürokratische Phantasie der Behörden an. Diese überbieten sich wechselseitig bei ihrem Bemühen, den Asylsuchenden wieder abschiebefähig zu machen, und in der Praxis ist das Recht auf Asyl nur noch eine von der Willkür gewährte Gnade geworden. Wem sie als Ausländer nicht zuteil wird, der darf sich damit trösten, nicht nur psychologisch, sondern realpolitisch zur deutschen Wiedervereinigung sein Scherflein beigetragen zu haben, denn die für Flüchtlinge aus Südostasien durch eine Vereinbarung der beiden deutschen Regierungen gesperrte Grenze zwischen den zwei Staaten hat sich darüber in ein einigendes Band verwandelt.

      Die beabsichtigte verfassungsmäßige Annullierung des Asylrechts wäre identisch mit der formellen Proklama­tion der Volksgemeinschaft. Dann bliebe nur noch, auf die friedliche Lösung zu hoffen, die alle befürchten: daß die Deutschen wirklich aussterben.

      1985

      Über den Bergen-Belsen-Prozeß

      Kommentierte Auszüge aus der Berichterstattung der Lüne­burger Post (Nachrichtenblatt der Alliierten Militärregierung) über den Bergen-Belsen-Prozeß (Mitte September bis Mitte November 1945)

      »Alle sechsundvierzig Angeklagten werden zusammen vor Gericht erscheinen, eine Anklagebank wird für die männlichen Angeklagten bereitgestellt, eine zweite für die neunzehn Frauen. (Nr. 11, 11.9.45) … Die Beweisaufnahme ergab, dass Zoddel das Durcheinander bei der Befreiung des Lagers dazu benutzte, um eine Gefangene, ein junges polnisches Mädchen, um den Haufen (sic!) zu schießen. (ibidem) Am ersten Tage der Verhandlung gegen Kramer und Genossen erklären sich alle Angeklagten nicht schuldig.«

      Die Prinzipien angelsächsischer Strafjustiz, auf denen auch das Procedere der Militärgerichtsbarkeit fußt, dokumentieren die Unangemessenheit klassischer Rechtsbegriffe angesichts der Massenvernichtung. Umso entschiedener insistiert die Anklage auf der genauen Einhaltung bürgerlicher Rechtsbegriffe, wie zum Beispiel der individuellen Verantwortlichkeit, der Schuldzumessung. So zeigt sich auch in der Justiz, dass die Theorie ihren Gegenstand nicht mehr unter angenommenen Bestimmungen der Vernunft fassen kann – als einigermaßen hilfloser Ausweg aus diesem Dilemma blieb, nicht nur im Belsen-Prozeß, die bescheidene Hartnäckigkeit, mit der Sieger und Überlebende an den vom Faschismus vernichteten Grundsätzen festhielten. Daher oft auch die in gewisser Weise »altertümelnde« Sprechweise, das feierliche Pathos:

      »Die Angeklagten werden beschuldigt, zwischen 1. Oktober 1942 und 30. April 1945 im KZ Bergen-Belsen als Mitglieder seiner Verwaltung und verantwortlich für das Wohl der dort Untergebrachten, die Gesetze des Rechts wie des Krieges verletzt zu haben, sich zusammengetan zu haben, alle Insassen übel zu behandeln. Dadurch haben sie den Tod eines britischen Staatsbürgers, zweier Ungarn, eines Franzosen, eines Holländers, eines Belgiers, eines Italieners, eines Staats­angehörigen von Honduras, die alle namentlich genannt wurden, darüber hinaus den weiteren Staatsangehörigen Alliierter Länder unbekannten Namens verursacht. Ferner werden die Angeklagten der Misshand­lung namentlich genannter und namenloser Angehöriger alliierter Länder beschuldigt. (Nr. 13, 18.9.45)«

      Bis zur Befreiung durch die Engländer kamen im KZ Bergen-Belsen ungefähr 13.000 Menschen um, an den Folgen starben in den ersten Monaten nach der Befreiung ungefähr noch einmal so viele.

      »UNBESCHREIBLICHE REVUE DES ABGRUN­DES (Titel Nr. 14, 21.9. 45) … Die Totengruben von Belsen im Film … Man sah den SS-Wachen, von denen eine ganze Reihe auf der Anklagebank den Film zusahen, an, daß sie diesen Dienst nicht gerne verrichteten. [D.h. unter der Aufsicht der Engländer die zahllosen Leichen in einem Massengrab zu transportieren.] Sie schienen sich ein wenig entwürdigt zu fühlen, die namenlosen Leichen in die Grube tragen zu müssen, sie schleppten sie wie lästige Säcke, warfen sie achtlos zu den Haufen der anderen.«

      Der Titel, nicht nur an dieser Stelle, und weitere Passagen – vgl. erstes und unten folgende Zitate – der Berichterstattung illustrieren trefflich Blochs Überlegungen im Essay »Der Nazi und das Unsägliche«: wie jeder Vergleich zur Geschmacklosigkeit gerät. Unbeholfen rettet sich die beschädigte Sprache in vermeintlich nicht kompromittierte literarische Analogien, und so liest man oft den Vergleich mit Dantes Hölle. Dieses gebildete quid pro quo, erstens das den Begriff suchende Stammeln nach dem bloß äußerlichen Abklingen des Schocks, verkennt den Charakter des Nationalsozialismus völlig.

      Das geschichtliche Denken, gewohnt, auch noch in den größten Verbrechen der Vorgeschichte einen zumindest unvermeidlichen Tribut an den weltgeschichtlichen Auftrag einer zu vernünftigen Verhältnissen emporstrebenden Menschheit zu sehen, oder – wie die abendländische Literatur in ihren klassischen Tragödien von Sophokles bis Goethe es an herausragenden Einzelschicksalen dargestellt hat – als Tribut des Lasters an die Tugend. Noch in seiner grausamsten Gestalt erschien das Verbrechen verständlich, und auf der Folie großer Gedanken gewann selbst der gräßlichste Übeltäter eine eigentümliche moralische Größe.

      Doch nichts von alledem im Nationalsozialismus, gegen welchen Dantes Inferno nur das Versagen traditioneller Begriffe und Vorstellungen enthüllt. Denn einem Eisenbahnbeamten, der fahrplanmäßig die Züge in ein Vernichtungslager abfertigt, eignet nichts Diabolisches; die Herstellung von Zyklon B erfordert keinen Schurken, wie man ihn vom Theater kennt, sondern einen Facharbeiter mit Feierabendhobby. Für den Nationalsozialismus ist charakteristisch nicht ein Übermaß von blindem Schicksal, gegen das menschliche Anstrengung sich aufrichtet im Eingedenken an eine vielleicht bessere Welt, wo noch im Scheitern die Wahrheit des davon verschiedenen Besseren auszumachen wäre. Im Nationalsozialismus fallen Quantität und Qualität des Verbrechens unterschiedlos und ohne Begrenzung zusammen, eigentlich gibt es nur noch Henker und Opfer – und auch diese Differenz hat bloß fließende Grenzen, wie eine bezeichnende Bemerkung verrät: »Daß einer Gegner des nationalsozialistischen Regimes gewesen war, hat man meistens erst dann gemerkt, als man ihn hingerichtet hat.« (Zitiert bei Brentano/Furth). So trivial wie diese Bestimmungen sind auch ihre Protagonisten. Jeder Versuch, den deutschen Faschismus mit den erwähnten literarischen Mitteln zu schildern, muss an dieser Trivialität scheitern. So schreibt Hannah Arendt in einer Kritik über den Charlie-Chaplin-Film »Der Diktator«, der ihr als Beispiel für dieses Misslingen gilt, dass der Film nur beweise, wie jeder Schmierenkomödiant, einen solchen mimt Chaplin in der Rolle eines Friseurs, heute Politiker werden könne. Nicht Schillers »Verbrecher aus verlorener Ehre« betritt im Kollektiv die Bühne der Geschichte, noch weniger die barbarischen Horden der Vorzeit, eher das Rohmaterial der modernen Sozialwissenschaften, welche darum deutlicher auch den angemessenen literarischen Ausdruck der Epoche bilden.

      Weder Teufel noch Dämon, weder Nero noch Philipp von Spanien, nicht Hades noch Hölle, nicht Athen und nicht Venedig, nicht Hamam und nicht Dschinghis Khan,2 sondern die namenlose, gesichtslose, konturlose und gedächtnislose Monade aus dem zeitgenössischen Ensemble von Bahnbeamten, abgebrochenen Volksschul­lehrern, Tierliebhabern und Feldwebeln, Sekretärinnen und Turnerriegen, Tabellenfachleuten, Wochenendausflüglern, Besserwissern, Familienvätern, Eintopfexperten – solcherart ist die Anthropologie des modernen Durchschnittshelden, der zu Höherem sich berufen fühlt, ein von seiner eigenen Trivialität nicht mehr verschiedenes Wesen und deshalb zuallerletzt