Der bestallten Dummheit sieht man einiges nach, denn im Ritual der öffentlichen Blamage enthüllt die Demokratie unter Bedingungen des Spätkapitalismus ihr Wesen: ein Dummkopf ist potentiell jeder – wer ihn angreift, der kriegt es mit allen zu tun. Im augenzwinkernden Einverständnis mit den Repräsentanten des Gemeinwesens kommen die Massen nicht zu ihrem Recht, wohl aber auf ihre Kosten. Nach dem Muster modischer Therapiezirkel fungiert der öffentliche Fauxpas als Selbstdarstellung der applaudierenden Zuschauer. Indem sich derart unanfechtbar eine hohlköpfige Koalition der Gefolgschaft koalierter Hohlköpfigkeit versichert, scheint sich unwiderruflich jene letzte, »schließliche Form« bürgerlicher Herrschaft etabliert zu haben, von der Marx im »18. Brumaire« im Zusammenhang mit – einem heute allerdings überflüssigen – Napoleon gesprochen hat.
Was im Staatsmann noch eine Einheit bildet, im deutschen Berufspolitiker zerfällt es: Er ist der auswechselbare Staatsdiener mit Freizeitbereich. Büro und abends Familie. Er ist den Nichtpolitikern so unterschiedslos ähnlich, daß diese jenen zu Recht nicht einmal kennen. Jede Umfrage beweist es aufs Neue: Wer weiß denn tatsächlich, daß es einen Minister für Forschung und Technologie gibt und wie dieser heißt? Der niedersächsische Ministerpräsident veranstaltet häusliches Chorsingen und hält sich Schafe, soweit die Füße ihn trugen hat der Bundespräsident die Republik durchwandert, usw. – eine endlose Reihe von Biedermännern mit Job und Weekend, eine Galerie mit Gesichtern von der Stange. Je mehr sie »unser Staat« sagen, desto weniger haben sie davon; und eigentlich meinen sie auch, wie jeder Büroangestellte, damit nur ihre Bezüge. Weil sie zu einer kümmerlichen Existenz verurteilt sind, sprechen sie vom »sozialen Besitzstand«, worin sie, wie jeder Gewerkschaftsfunktionär, die Verkörperung der sittlichen Vernunft erblicken. Der unbedeutende Unterschied des Politikers zum Nichtpolitiker besteht alleine noch in dem Umstand, daß jener auf der Kommandobrücke eines Schiffes Platz genommen hat, worin dieser einen Ausflug zum Malstrom gebucht hat. Und damit sitzen sie wirklich alle im sprichwörtlich einen Boot.
Für den Verlust an Format, dem chronischen Leiden deutscher Politiker, rächen diese sich auf ihre Weise. Weil sie der Möglichkeit nach nichts sind, wollen sie in Wirklichkeit alles sein; weil sie im Leben niemand ernst nehmen würde, wollen sie andere den Ernst des Lebens spüren lassen. Wo jeder alles und jeden versteht, herrscht an Verzeihung kein Mangel: Es mag ein Politiker noch die ausgemachteste Schandtat aushecken, er wird sich nicht einmal dadurch unsterblich blamieren, daß er in flagranti beim Verfassungsbruch oder in der Halbwelt erwischt wird, im Gegenteil: Solche Blamage macht unsterblich.
Die politischen Tugenden des citoyen haben hier ihr spirituelles Leben ausgehaucht und sind ersetzt worden durch ein Arsenal regressiver Reflexe: Im Land des Berechtigungswesens und des Bewährungsaufstiegs muß man vor allem gut sitzen können; es zählen Eigenschaften, wie man sie im Höhlenzeitalter kannte und nach der Neutronenbombe braucht – Hartnäckigkeit, Durchhaltevermögen, Zähigkeit, Robustheit und Überlebenswillen.
Wenn Politik keine von sich verschiedenen Zwecke mehr intendiert, wenn sie identisch wird mit ihren Methoden, dann ist sie nichts und wiederum auch alles. Und damit schlägt die Stunde des Kleinbürgers, den Politik als Selbstzweck fasziniert. Hannah Arendt bezeichnet diesen Typus, der im 20. Jahrhundert Geschichte machen kann als »Spießer«. Nachdem die Menschen Gott nicht mehr zu fürchten haben und ihnen ihr Gewissen durch den Funktionscharakter ihrer Handlungen abgenommen ist, fühlen sie sich höchstens noch ihrer Familie gegenüber verantwortlich. Aus dem an öffentlichen Angelegenheiten interessierten Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, das sich seiner Verantwortung für das Gemeinwesen bewußt war, ist der an seinem privaten Dasein klebende Spießer geworden. Und in den kleinen menschlichen Schwächen der Großen findet sich der kleine Mann immer wieder. Öffentliche Tugenden kennt er nicht, und wenn in dem ihm ähnlichen Versager Herrschaft und Knechtschaft eine lächerliche, doch eben darum lebensgefährliche Symbiose eingehen, dann erkennt er zufrieden sein eigenes Spiegelbild: Auch einer von uns, ein Anstreicher. Hauptsache Durchschnitt – nach dieser Devise wurden deutsche Politiker gemodelt. Friedrich Ebert, der biedere Charakter mit Sitzfleisch stand Modell, nicht Walter Rathenau, der den Haß der Abgerichteten auf sich zog.
Gerade weil sie so austauschbar sind, kleben sie an ihren Stühlen; weil man im politischen Geschäft keine Adlerschwingen mehr benötigt, tapsen sie die Hühnerleiter hinauf bis zum Ruhestand. Es geht ihnen – gemäß dem olympischen Spruch: »Dabei sein ist alles« – wie ihrer Gefolgschaft: Wer nicht mitmacht, ist schon draußen. Weil dabei weder Gesinnung noch Verantwortung jene Rolle mehr spielen, die Max Weber an der Wende zur verwalteten Welt als die ethische Paradoxie der Politik bezeichnet hat, sondern durch unspezifische Ausdauer ersetzt sind, beschäftigt sich die politische Soziologie heute mit den Härtetests von Laufbahnpolitikern. Mit dem Topos »Zirkulation der Eliten« hat die moderne Sozialwissenschaft den Sachverhalt beschrieben, daß die gerade nicht regierende Partei in gepolsterten Sesseln wie in einem Startloch kauert und bei gewonnenem Rennen nur die Plätze getauscht werden. Keine strittige Sache bezeichnet der Begriff der Elite mehr, sondern einen Naturvorgang: Ein System von kommunizierenden Röhren, worin die Geister im umgekehrten Verhältnis zu ihrem spezifischen Gewicht in die Höhe steigen. »Geist habilitiert sich nicht«, beschied deshalb ein Frankfurter Ordinarius das Habilitationsbegehren von Walter Benjamin, der damals begreifen mußte, daß Intelligenz nicht zu den Voraussetzungen gehört, um in Deutschland Professor zu werden.
Daß einer freiwillig seinen Platz räumt in einem System, das nur nach oben offen ist, gehört zu den unerklärlichen Wundern der Zeitgeschichte. Wo wegen eines Mißerfolgs oder einer diskreditierenden Affäre ein Politiker in früheren Zeiten zurückgetreten ist und dies anderwärts heute noch selbstverständlich ist, da nimmt in Deutschland keiner seinen Hut. Um ihr Gesicht nicht zu verlieren, treten andere mit gebührendem Anstand zurück; da deutsche Politiker das eine nie besessen haben und deshalb das andere nie erwerben konnten, harren sie anstandslos mit der ernstesten Miene aus. Und geht wirklich einmal einer vorzeitig, was dann?
II.
Einen Monat nach der Wahl des ehemaligen NSDAP- Mitglieds Carstens zum neuen Bundespräsidenten – Mitte 1979 – und eine Woche vor der damaligen Nominierung von Strauß zum Kanzlerkandidaten der CDU/CSU trat der Sozialdemokrat Hans Seifriz, 52 Jahre alt und seit zehn Jahren Senator der Hansestadt Bremen, von seinem Amt zurück. Zwischen zwei normalen Ereignissen der deutschen Nachkriegsgeschichte vielleicht eine Kehrtwende? Neunundneunzig Sünder und ein Gerechter?
Eine der CDU nahestehende Wochenzeitung hatte einen für politische Karrieren in der Bundesrepublik nicht untypischen Befähigungsnachweis von Seifriz in die Hände bekommen und schadenfroh veröffentlicht. Als angehender Journalist hatte Seifriz unter anderem folgende Talentprobe veröffentlicht: »Eine in fast allen Völkern lebende gottverfluchte Rasse war es, die immer wieder die Völker unterwühlte, ihr Eigenleben störte und Kriege anzettelte ... Der Jude ist der erbittertste Feind jedes völkischen Eigenlebens ... Wenn wir an die zum Teil himmelschreienden Verhältnisse denken, dann müssen wir dem Führer aus tiefstem Herzen dankbar sein, daß durch die nationalsozialistische Staatsform die Geburt von gesunden Kindern garantiert wird; denn nur dadurch kann sich ein Volk lebenskräftig erhalten.« (zit. nach Frankfurter Rundschau vom 25.6.1979).
Wäre der Senator, der als Jugendsünde gewertet wissen wollte, was doch angesichts der Zeit, in der er seine ersten öffentlichen Sporen sich verdient hat, nämlich Ende 1944, eher als Einübung in eine der politischen Karriere förderlichen Tugend gelten kann, in die Tugend, konsequent, d.h. wider besseres Wissen bis zum eigenen Untergang zu handeln – wäre dieser Senator schweigend und in betreten schweigender Stimmung zurückgetreten, dann hätte man, wenn auch mit falscher Hoffnung, vielleicht ein wenig aufatmen können: Gut, einer weniger. Einer von wievielen?
Wir wissen es nicht, und die Umstände des Rücktritts bewiesen auch, daß wir es auch gar nicht so genau zu wissen brauchen. Denn dieser Einzelfall komplettiert nur das Bild. Nicht trotz des Nationalsozialismus hat es einer zu einem öffentlichen Amt gebracht, sondern eben deshalb. Von den Unionsparteien