Ohne diese Anwendungen hier im Detail zu untersuchen, ist offensichtlich, dass der Einsatz von 3D im Nichtunterhaltungssektor eine facettenreiche Kartierung und Aneignung fast jeder Art von Territorium darstellt: über- und unterirdisch werden physikalischer Raum, virtueller Raum und der Weltraum hybridisiert und einander angeglichen, zusammengenäht oder gegeneinander ausgespielt, um dem Sichtbaren »Relief« und »Körper« zu geben und räumlich erfassbar zu machen, was das menschliche Auge überhaupt nicht wahrnimmt. Dies bringt uns über Umwege zurück zu den Anfängen des Kinos, über geringere Umwege allerdings, als es scheinen mag.67
Von besonderem Interesse ist der Name der Software, deren Vielseitigkeit ich eben zitiert habe – »Fledermaus«, was mich unpassender Weise zuerst an die gleichnamige Operette von Johann Strauss (Sohn) erinnert hat. Bei näherer Überlegung erwies sich das Wortspiel allerdings als bedeutsam. Dass die ursprünglich dänische Firma das deutsche Wort »Fledermaus« verwendet, erinnert einmal mehr an die Tatsache, dass 3D-Grafik und Software weniger mit dem Sehen, als mit der sensorischen Erfassung des Raums zu tun haben: Auch Fledermäuse orientieren sich im Raum und bestimmen ihre Flugbahnen nicht mittels des Sehvermögens, sondern durch Hochfrequenz-Ultraschall.68
Das erweiterte Ensemble und dessen Wechselwirkungen
In welchem Ausmaß betreffen stereoskopische und erweiterte 3D-Technologien nicht nur das Sehvermögen sondern jenes Spektrum, in dem sich Sehen, Fühlen, Tasten und Handeln vermischen und hybridisieren? Der Regisseur Harun Farocki befasst sich seit über drei Jahrzehnten mit dem industriellen, wissenschaftlichen, institutionellen und militärischen Einsatz von Bildern, die räumliche Tiefe und Vorgänge auf Distanz simulieren. Ihm zufolge haben sich die Bilder von »betrachtbaren Darstellungen« zu Informationsquellen entwickelt, die gescannt und klassifiziert werden können und benutzbar sind. Titel wie Images of the World and Inscription of War (1989), Eye/Machine (2001-2003), I Thought I was seeing Convicts (2000) oder Deep Play (2008) belegen, dass Farocki Bilder auf der Schwelle von der Betrachtung zur Benutzung dekonstruiert, analysiert und historisch kontextualisiert hat. Diese sogenannten operativen Bilder69 schließen Stereomessbilder der Architektur und Landvermessung des 19. Jahrhunderts ein sowie Fotoaufklärungsflüge der US-Luftwaffe über Auschwitz aus dem Jahre 1944, Überwachungsfilme aus Hochsicherheitsgefängnissen und Supermärkten, Zeit- und Bewegungsstudien in Fabriken und die daten-orientierte Erfassung des WM-Fußballfinales 2008 in Berlin. In vielen dieser Fälle sind die Bilder nicht etwas, das es zu betrachten gilt, in die man sich vertiefen, die man mit Bewunderung oder Desinteresse zur Kenntnis nehmen kann, sondern eine Reihe von Handlungsinstruktionen oder Datensätzen, die in Taten übersetzt werden sollen.
Die kursorische Auseinandersetzung mit Farockis Arbeiten70 führt mich zu einer Zusammenfassung meiner Argumente. Dreidimensionale Bilder (oder die räumliche Wahrnehmung durch technische Mittel) waren unter einer Reihe unterschiedlicher, aber verwandter Gesichtspunkte von Bedeutung und werden es auch weiterhin sein:
Erstens: Das Bedürfnis, dem projizierten Licht eine räumliche Form und Materialität zu verleihen, scheint der flachen Kinoleinwand vorausgegangen zu sein. Letztere war vom gerahmten Bildfeld der Malerei geprägt und entlieh ihr die Simulation von Tiefe durch perspektivische Darstellung und Proportionierung des Bildraums. In gewisser Hinsicht kann man also tatsächlich von einer Art Wiederkehr der 3D-Bilder sprechen: Einer Wiederkehr nämlich, die den unbeweglichen Betrachter vor der starren, rechteckigen Leinwand wieder zum historisch kontingenten Akteur macht. Dies geschieht in einem zwar übergangshaften, aber trotzdem notwendigen Arrangement, also durch einen anhaltenden transformativen Prozess, dessen Gesamtlogik uns derzeit noch zu entgehen scheint, weshalb sein Verlauf weder normativ noch teleologisch klar bestimmt werden kann.
Mein zweiter Punkt betrifft ein erweitertes Verständnis der stereoskopischen Bildgestaltung. Demgemäß symbolisiert 3D paradoxerweise weiterhin die verschiedenen Eigenschaften, Gebrauchsweisen und Oberflächen dessen, was wir immer noch »Bildschirm« nennen, was aber gleichzeitig den waagrechten Horizont und die starre Perspektive abschafft. Somit wird eine Art schwebende Präsenz eingeführt, immateriell, unsichtbar und allgegenwärtig, die eine nicht weniger formalisierte Illusion darstellt als die lineare Monokularperspektive, als diese noch implizit vorgab, die Erde sei flach und der Mensch die einzige vor Gott bedeutende Kreatur. Die Illusion der Ubiquität und Gleichzeitigkeit kompensiert heute die Tatsache, dass wir nicht mehr als ein Staubkorn im Universum sind, verwoben mit Koordinatennetzwerken, an jedem Raumzeitpunkt verfolgbar und überwachbar, und dennoch in einem wellenförmigen, mobilen und variablen »Inneren« schwebend, dem kein »Außen« mehr entspricht, egal wie vernetzt und wuchernd dieses Innere – euphemistisch »online sein« genannt – auch zu sein verspricht.
Mein dritter und letzter Punkt befasst sich mit einigen der erwähnten Haupt-akteure: Hollywood und die Unterhaltungsindustrie, die Avantgarde und Poeten der Obsoleszenz und die militärisch-industriellen Nutzer des visualisiert-virtualisierten Raumes. In jedem der Fälle wurde versucht, die Kernziele dieser Akteure in Form von kontraintuitiven oder alternativen Genealogien herauszuarbeiten. Was Hollywood betrifft, ist D3D kein Spezialeffekt, sondern ein Mittel zur Anpassung und Vereinheitlichung des Projektionsstandards. Die energische Werbekampagne ist keine Panikreaktion, sondern Teil des Versuchs, alle Plattformen und Bildschirme, groß und klein, fixiert und mobil durch einen Standard zu vereinen. 3D ist entgegen allen Erwartungen keine Erweiterung des realistischen Bildraumes, sondern fungiert als Ergänzung zu unseren Klang- und Tonräumen.
Was die verschiedenen Avantgardebewegungen betrifft, so haben diese in der Moderne – von William Turner über den Kubo-Futurismus, Dadaismus und Surrealismus bis hin zu Ken Jacobs und Harun Farocki – die Hegemonie der Renaissanceperspektive kontinuierlich in Frage gestellt. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts waren allerdings nicht länger Fotografie und Malerei, sondern Skulptur und Performancekunst die treibenden Kräfte hinter den zeitbezogenen Stereoräumen. Die Poetik der Obsoleszenz wiederum hat verschiedene alternative Genealogien des Kinos am Leben erhalten und sich, die Fotografie übergehend, immer auf die Phantasmagorie rückbezogen. Dadurch verspricht sie dem Kino eine mögliche Zukunft als Kunstinstallation: Digitales 3D-Kino ist Bild als Raum und Raum als Bild.
Jene, die 3D für militärisch-industrielle Zwecke verwenden (wie auch die Generation der Computerspieler), definieren das Bild neu: Es ist nicht länger eine zu betrachtende Darstellung, sondern eine Reihe von Handlungsanweisungen. In diesem Zusammenhang umfasst 3D auch Ton, Sonar, räumliche Datenaufzeichnung sowie die Verwendung des Bewegtbildes als Zeitindex. Der Blick selbst spielt hier gegenüber anderen Informationsquellen nur eine untergeordnete Rolle. Angesichts der Betonung der Kontrolle