"Vielleicht sollte ich meine Freundin da nicht hineinziehen", meinte sie dann. Sie sah mich mit großen, dunklen Augen an. "Und was haben Sie mir anzubieten, G-man? Eine gastliche Gewahrsamszelle des FBI etwa?"
"Das wäre eine Möglichkeit."
"Gibt es auch noch andere?"
"Das FBI unterhält eine Reihe von Wohnungen für derartige Zwecke."
"Ich bevorzuge diese Variante."
"Aber vorher werden Kollegen von uns Sie zum Field Office an der Federal Plaza bringen."
"Wieso?"
"Sie werden eingehend befragt werden. Außerdem wird es notwendig sein, dass unsere Erkennungsdienstler Ihre Wohnung unter die Lupe nehmen."
"In meinen Sachen herumschnüffeln?" Sie verschränkte die Arme unter den vollen Brüsten. "Damit bin ich nicht einverstanden."
Ich trat etwas näher an sie heran. "Es geht nicht um Ihre Sachen, Miss Tomlin."
"Ach, nein?"
"Wir suchen nach Spuren, die der Mann hinterlassen hat, der sich Ihnen gegenüber Warren Anderson genannt hat."
"Ich denke, Fingerabdrücke können Sie auch von einem Toten abnehmen!", erklärte sie. Ihr Tonfall war jetzt eisig geworden. Ich spürte ihren abgrundtiefen Widerwillen gegen die Aussicht, dass jemand die Wohnung durchsuchte.
Einerseits war mir das verständlich. Niemand lässt so etwas gern über sich ergehen, wenn es sich vermeiden lässt.
Andererseits schwebte diese junge Frau doch ganz offensichtlich in Lebensgefahr. Und wenn sie die Wahrheit gesagt hatte und sich tatsächlich nicht vorstellen konnte, wer hinter dem Anschlag auf sie steckte, musste sie doch eigentlich selbst am meisten daran interessiert sein, dass endlich Licht ins Dunkel gebracht wurde...
"Es wäre nicht ungewöhnlich, dass Warren Anderson in Ihrer Wohnung noch etwas hinterlassen hat. Bargeld, eine Waffe, Munition, falsche Papiere... Ihre Wohnung wäre ein unverdächtiges Versteck. Ich wette mit Ihnen, dass es hier Dutzende von Ecken gibt, auf die Sie nie kommen würden!"
Sie schluckte.
"Wenn Sie meinen, Mister Trevellian."
"Was halten Sie davon, wenn Sie mich einfach Jesse nennen?"
"Jesse...", hauchte sie.
Dabei konnte sie nicht sehen, wie hinter ihr Milo die Augen verdrehte.
11
UNSERE KOLLEGEN TRAFEN bald ein und brachten Doretta Tomlin in unsere Zentrale in der Federal Plaza. Die Einsatzkräfte der Scientific Research Division trafen etwas später ein.
Ich drückte den Beamten des zentralen Erkennungsdienstes der verschiedenen New Yorker Polizeibehörden die Daumen, dass sie irgendetwas fanden, was uns auf die Spur jener beiden Killer bringen konnte, die es auf Doretta Tomlin abgesehen gehabt hatten.
Eine zurückgelassene Patronenhülse, die verschossenen Projektile, Aufnahmen von Überwachungskameras in der Umgebung, die vielleicht das Fluchtfahrzeug aufgenommen hatten...
Manchmal waren es Kleinigkeiten, die uns weiter brachten.
Außerdem hatten die Erkennungsdienstler natürlich Doretta Tomlins Wohnung genauestens unter die Lupe zu nehmen.
"Ich frage mich, ob sie unseren Verhörspezialisten gegenüber etwas weniger zugeknöpft ist!", meinte ich an Milo gewandt.
Milo grinste.
"Für dich war die Lady ja offenbar noch lange nicht zugeknöpft genug, Jesse."
"Was willst du damit sagen?"
"Na, so wie du sie angestiert hast!" Milo atmete tief durch. "'Was halten Sie davon, wenn Sie mich einfach Jesse nennen?'", imitierte er mich dann. "Jesse, diese Frau sieht vielleicht wie jemand aus, der unseren Schutz braucht, aber die hat es faustdick hinter den Ohren."
"Mag ja sein..."
"Ich hoffe, du hast dir nicht allzu sehr das Hirn vernebeln lassen."
"Milo, ich glaube auch, dass Doretta uns einiges verschweigt."
"Jesse, wenn wir nicht gewesen wären, hätten die beiden Typen sie erwischt! Und sie kann sich angeblich nicht vorstellen, wer die zwei geschickt hat oder um wen es sich bei diesen Mobstern handelt!" Milo schüttelte energisch den Kopf. "Das stinkt doch zum Himmel!"
"Sie hat Angst, Milo!"
"Angst uns gegenüber auszupacken und dadurch ihre eigene Lebenserwartung erheblich zu erhöhen? Das ergibt für mich keinen Sinn."
"Wir wissen einfach nicht genug über sie, das ist alles."
Sergeant Darren Konkrite, einer der SRD-Kollegen wandte sich an uns. "Es gibt einen Ohrabdruck!", berichtete er in einem fast triumphierenden Tonfall. "Einer der beiden Täter muss sein Ohr an die Tür gehalten und gelauscht haben, bevor sie in die Wohnung einzudringen versuchten."
Der Abdruck eines menschlichen Ohres ist ebenso individuell wie ein Fingerabdruck. Vor allem bei Einbruchsdelikten kam es immer wieder vor, dass Täter am Tatort derartige Spuren hinterließen.
Immer häufiger wurden Täter mit Hilfe von Ear-Prints überführt.
Der Unterschied zu den Fingerprints lag im Wesentlichen darin, dass wir über AIDS, das Automated Identification System zur Erkennung von Fingerabdrücken die Prints von etwa 250 Millionen Personen abgespeichert vorfanden. Ganze Generationen von erkennungsdienstlich behandelten Kriminellen und Verdächtigen sowie sämtliche Bewerber für den öffentlichen Dienst oder die Army der letzten fünfzig Jahre waren dort abrufbar.
Bei den Ohrabdrücken sah das Ganze noch sehr bescheiden aus.
Die Zahl der gespeicherten Personen lag inzwischen im fünfstelligen Bereich.
Für Fahndungszwecke lächerlich wenig.
"Dann brauchen wir ja nur noch den passenden Kopf zu dem Ohr", meinte Milo.
"Das ist immerhin ein Anfang", fand ich.
Wenig später saßen wir im Sportwagen und fuhren zunächst zu einer Snack Bar, um einen Hot Dog zu genehmigen. Vielleicht nicht gerade die gesündeste Ernährung, aber bei einem G-man im Außendienst muss die Mahlzeit oft nebenbei erledigt werden. Anschließend fuhren wir zurück zur Federal Plaza.
Doretta Tomlin wurde dort von unseren Verhörspezialisten Dirk Baker und Irwin Hunter befragt.
Inzwischen waren die bei dem Einsatz am Yachthafen von Laurence Harbour mit Hilfe meiner Knopfkamera entstandenen Bilder ausgewertet worden.
Max Carter stellte die Erkenntnisse in Mister McKees Besprechungszimmer vor.
Außer Milo und mir waren noch die Agenten Fred LaRocca, Jay Kronburg und Leslie Morell anwesend. Orry und Clive waren mit der Fahndung nach Zapata beschäftigt und noch im Einsatz.
Ein halbes Dutzend Personen, die auf den Videoaufzeichnungen zu sehen waren, hatten unsere Innendienstler inzwischen identifizieren können. Einige waren alte Bekannte. Aber keiner von ihnen