Die Standardabweichung der Schadenhöhe ist also 64.698,82 EUR.
Die Einheit der Standardabweichung entspricht derjenigen der Zufallsvariable. Liegen die Ausprägungen der Zufallsvariable nahe beim Erwartungswert, so ist die Standardabweichung klein. Streuen sie weit um den Erwartungswert, so ist die Standardabweichung groß. Ebenso wie die Varianz kann auch die Standardabweichung nicht negativ werden. Bei manchen Wahrscheinlichkeitsverteilungen können mithilfe der Standardabweichung direkt Wahrscheinlichkeitsaussagen abgeleitet werden. Beispielsweise liegen bei der Normalverteilung 68 % der Realisierungen im Bereich von zwei Standardabweichungen um den Erwartungswert (d. h. im Bereich von E(X) − σ(X) bis E(X) + σ(X)).
Im finanz- und versicherungswirtschaftlichen Kontext wird die Standardabweichung der Änderungen relevanter Größen auch Volatilität genannt und oft als einfaches Risikomaß verwendet, weil sie Informationen über das Ausmaß der Schwankung dieser Größen liefert.
Abbildung 8 zeigt zwei Wahrscheinlichkeitsverteilungen mit unterschiedlichen Varianzen und Standardabweichungen. Die Verteilung auf der linken Seite hat eine Standardabweichung in Höhe von σ(X) = 104. Die Standardabweichung der Verteilung auf der rechten Seite ist mit σ(X) = 210 mehr als doppelt so groß. Beide Wahrscheinlichkeitsverteilungen haben einen Erwartungswert von ca. 1.050.
Abb. 8: Wahrscheinlichkeitsverteilungen mit unterschiedlichen Standardabweichungen
1.3.4 Gesetz der großen Zahlen
In großen Versicherungskollektiven kommt ein zentraler Satz der Wahrscheinlichkeitstheorie zum Tragen, der als Gesetz der großen Zahlen bezeichnet wird. Letzteres besagt sinngemäß, dass mit zunehmender Anzahl der Beobachtungen eines Zufallsvorgangs der Erwartungswert des Zufallsvorgangs immer zuverlässiger durch den Mittelwert der Beobachtungen abgebildet wird. Das Gesetz wird zunächst anhand eines einfachen Beispiels veranschaulicht, um im Anschluss seine Bedeutung im Rahmen der Versicherungswirtschaft darzulegen.
Beispiel 13 (Gesetz der Großen Zahlen):
Ist X eine diskrete Zufallsvariable, welche der geworfenen Augenzahl beim einmaligen Werfen eines sechsflächigen, »fairen« Würfels entspricht, so ist ihre Wahrscheinlichkeitsverteilung durch die folgende Tabelle gegeben:
Tab. 3: Wahrscheinlichkeitsverteilung der Zufallsvariable X (Augenzahl beim Werfen eines Würfels)
Der Erwartungswert E(X) der Zufallsvariable X ist dann
Der Würfel wird nun mehrmals hintereinander geworfen und es werden die Anzahl n der Würfe sowie die jeweils geworfenen Augenzahlen festgehalten, sodass der Mittelwert der Augenzahlen berechnet werden kann. Wird der Würfel bspw. n = 5 mal hintereinander geworfen, wobei die Augenzahlen 5, 3, 6, 1 und nochmals 1 fallen, so ist der Mittelwert
Der Mittelwert kommt dem Erwartungswert beliebig nah; er konvergiert gegen den Erwartungswert für n gegen unendlich. Abbildung 9 veranschaulicht diesen Sachverhalt grafisch.
Tab. 4: Mittelwerte der Augenzahlen nach n-maligem Werfen eines Würfels
Ebenso kann man auch zeigen, dass die relative Häufigkeit des Auftretens einer bestimmten Augenzahl gegen die zugehörige, theoretische Wahrscheinlichkeit10 konvergiert.
Abb. 9: Mittelwerte der Augenzahlen nach n-maligem Werfen eines Würfels
1.4 Ausgleich im Versicherungskollektiv
Die Erkenntnisse des Würfelbeispiels lassen sich in ähnlicher Weise auf ein Versicherungskollektiv übertragen. Anstelle der Augenzahl des Würfels betrachten wir im Versicherungskollektiv als Zufallsvariable die Schadenhöhe, welche im Laufe einer Periode bei einer versicherten Person oder Sache11 auftritt. So wie der Mittelwert der beobachteten Würfe gegen den Erwartungswert der Augenzahl konvergiert, so konvergiert auch der durchschnittliche Schaden im Versicherungskollektiv gegen den erwarteten Schaden, wenn die Anzahl der Risiken im Kollektiv steigt. Mit zunehmender Kollektivgröße können die tatsächlich eintretenden Schäden pro Person (bzw. Risiko) somit immer besser durch die erwarteten Schäden prognostiziert werden, weil die Abweichungen zwischen den tatsächlichen Schäden und den Schadenerwartungswerten tendenziell kleiner werden. Das Risiko, welches für den Einzelnen in einem zumeist höchst ungewissen, zukünftigen Schaden besteht, wird im Kollektiv somit beherrschbar, weil auf der Ebene des Kollektivs – bei ausreichender Kollektivgröße – eine präzise Vorhersage über die zukünftige Schadenhöhe pro Person (bzw. Risiko) getroffen werden kann. Damit schließt sich der Kreis zum ersten Abschnitt dieses Kapitels, in dem die Versicherung als eine Technik zur Überwindung von Unsicherheit eingeführt wurde. Das Gesetz der großen Zahlen ist die zentrale wahrscheinlichkeitstheoretische Erkenntnis, welche letzteres ermöglicht.
Um die Wirkung der Zusammenfassung von Risiken in einem Versicherungskollektiv weiter zu ergründen, betrachten wir beispielhaft ein einfaches Kollektiv, welches zunächst aus lediglich zwei Personen besteht, deren Risiken voneinander unabhängig sind, sodass anhand des Eintretens eines Schadens bei der ersten Person keine genauere Vorhersage über das Eintreten eines Schadens bei der zweiten Person getroffen werden kann.
Beispiel 14 (Zusammenfassung von Risiken im Kollektiv – Teil 1):
Lena und Paul haben sich gegen Unfälle versichert. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich innerhalb des nächsten Jahres ein Unfall ereignet, sei bei beiden gleich groß und betrage sowohl bei Lena als auch bei Paul jeweils p = 10 %. Die beiden kennen sich nicht und haben unterschiedliche Wohnorte, sodass man davon ausgehen kann, dass das Eintreten eines Unfallschadens bei Lena unabhängig von dem Eintreten eines Unfallschadens bei Paul ist.
Um das Beispiel einfach zu halten, modellieren wir die Schadenhöhe bei den beiden Versicherungsnehmern (Lena und Paul) als diskrete Zufallsvariable, die lediglich zwei Ausprägungen annehmen kann. Falls es bei einer der beiden Personen zu einem Unfall kommt, betrage die Schadenhöhe 1.000 Euro; wenn es zu keinem Schaden kommt, so ist die Schadenhöhe natürlich 0 Euro. Mehr als ein Schadenereignis pro Person und Jahr sei nicht möglich.
Die Wahrscheinlichkeitsverteilungen der beiden Versicherungsnehmer sind somit identisch.
Wahrscheinlichkeitsverteilung für Lena:
Tab. 5: Wahrscheinlichkeitsverteilung der Schadenhöhe für Lena
Wahrscheinlichkeitsverteilung für Paul:
Tab. 6: Wahrscheinlichkeitsverteilung der Schadenhöhe für Paul
Bevor Paul und Lena in einem Versicherungskollektiv zusammengefasst werden, ergibt sich für eine einzelne Person der Erwartungswert der Schadenhöhe somit aus
und