Die Übertragung der Risiken auf VU führt nicht nur zu der Möglichkeit einer effizienten Kapitalverwendung, sondern auch zu einer effizienten Risikoallokation. Letzteres bedeutet, dass die Risiken an den Ort (in unserem Fall das VU) gebracht werden, an dem sie besonders gut bewältigt werden können. Nicht nur auf der einzelwirtschaftlichen Ebene (im Beispiel 4 bei Michel) sondern auch auf volkswirtschaftlicher Ebene verbessert sich somit die Fähigkeit, Risiken einzugehen. Viele Unternehmen würden ohne die Möglichkeit, Versicherungen abzuschließen, vermutlich nicht existieren, weil ihre Eigentümer in vielen Fällen nicht bereit oder in der Lage wären, die Risiken, die mit ihrer Geschäftstätigkeit verbunden sind, selbst zu tragen. Die Versicherungsbranche ist somit eine wesentliche Grundlage für die Existenz zahlreicher Unternehmen und für eine florierende Volkswirtschaft von zentraler Bedeutung.
Aufgrund des zeitlichen Auseinanderfallens von Prämienzahlung und der Leistung des VU an die VN entsteht die Notwendigkeit, das von den VN erhaltene Geld anzulegen. Das daraus resultierende Anlagegeschäft, d. h. die Anlage des Teils der Prämieneinnahmen, der zu einem späteren Zeitpunkt für die Erbringung der zu erwartenden Leistungen an die VN zur Verfügung stehen soll, erfolgt dabei über unterschiedliche Zeiträume, die im Zusammenhang mit dem jeweils betriebenen Risikogeschäft und den daraus resultierenden Verpflichtungen gegenüber den Versicherungsnehmern stehen. Werden bspw. die vom VU an die VN zu erbringenden Leistungen im Rahmen des Risikogeschäfts größtenteils erst in der fernen Zukunft (z. B. in einigen Jahrzehnten) erwartet, so kann auch die Kapitalanlage auf längere Zeiträume ausgerichtet werden.
Im Zusammenhang mit dem Anlagegeschäft wird oft auch das Spar- und Entspargeschäft genannt. Das Spargeschäft bezeichnet einen Prozess, bei dem der VN an das VU Zahlungen leistet, welche von letzterem zum Aufbau eines Kapitalstocks verwendet werden. Teil des Anlagegeschäfts im VU ist es dann, diesen Kapitalstock zu verwalten. Im Rahmen des Entspargeschäfts erfolgen zu späteren Zeitpunkten Entnahmen aus dem Kapitalstock, um Leistungen an den VN erbringen zu können.
Beispiel 5 (Private Krankenversicherung):
Die zu erbringenden Leistungen einer Krankenversicherung für einen Versicherten steigen i. d. R. mit dessen Alter. Tritt ein dreißigjähriger VN einer privaten Krankenversicherung bei, so ist seine jährliche Prämienzahlung üblicherweise höher als die jährlichen Leistungen, welche er von der Krankenversicherung erhält, sodass ein Teil seiner Zahlungen vom VU zum Aufbau eines Kapitalstocks verwendet werden kann. Das VU entscheidet, in welchen Anlageformen (z. B. Aktien oder Anleihen) die verfügbaren Gelder investiert werden. Der Kapitalstock wird vom VU verwaltet. Neben den Zahlungen des VN tragen auch Kapitalerträge (wie bspw. Zinsen und Dividenden) aus dem Kapitalstock zu seinem Aufbau bei. Erst wenn der VN ein hohes Alter erreicht hat, werden i. d. R. aufgrund häufiger auftretender gesundheitlicher Probleme die jährlichen Versicherungsleistungen die Prämienzahlungen übersteigen. Bis der VN dieses Alter erreicht hat, wird das VU aus seinen Zahlungen der vergangenen Jahre den Kapitalstock in einem angemessenen Umfang aufgebaut haben. Aus dem Kapitalstock können nun, im hohen Lebensalter des VN, Entnahmen getätigt werden, sodass er die nötigen Leistungen erhalten kann, ohne dass seine Prämienzahlungen an das VU erhöht werden müssen.
Eine ausführliche Behandlung der Kapitalanlagen im VU erfolgt in Kapitel 7 dieses Buches.
Im Rahmen des Versicherungsgeschäfts wird eine Reihe von Dienstleistungen gegenüber den VN aber auch innerhalb des Versicherungsunternehmens erbracht. Beispielsweise müssen Kunden vor (und gelegentlich auch nach) dem Abschluss eines Versicherungsvertrags in vielfältiger Weise beraten werden. Schadenmeldungen müssen entgegengenommen und Schäden reguliert werden, sodass die Geschädigten letztlich eine Leistung des Versicherers erhalten, welche ihren Schaden kompensiert. Innerhalb des VU müssen Informationen beschafft, verarbeitet und gespeichert werden. Die Gesamtheit dieser zuvor genannten, unterschiedlichen Dienstleistungen bezeichnen wir als Dienstleistungsgeschäft.
Risiko-, Anlage- und Dienstleistungsgeschäft sind die wesentlichen Komponenten des Versicherungsgeschäfts. Das Risikogeschäft bildet den Kern des Versicherungsgeschäfts aus dem aufgrund des zeitlichen Auseinanderfallens von Prämienzahlung und Versicherungsleistung zwangsläufig das Anlagegeschäft entsteht. Das Dienstleistungsgeschäft umfasst eine Vielzahl von Tätigkeiten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den beiden zuvor genannten Teilgeschäften stehen.
Sieht man davon ab, dass sowohl Prämien als auch Schäden und Leistungen des VU mehrfach, d. h. zu einer ganzen Reihe von Zeitpunkten anfallen, so lässt sich das aus den drei zuvor beschriebenen Teilgeschäften bestehende Versicherungsgeschäft vereinfacht wie in Abbildung 2 darstellen.
Abb. 2: Die Teilgeschäfte des Versicherungsgeschäfts
1.3 Grundlegende Begriffe der Wahrscheinlichkeitstheorie
1.3.1 Zufall und Wahrscheinlichkeit
»Zufall ist ein Wort ohne Sinn; nichts kann ohne Ursachen existieren.«
(Voltaire)
Wie zuvor erläutert, besteht das Hauptziel der Versicherungswirtschaft in der Bewältigung der mit zukünftigen Ereignissen verbundenen Unsicherheit. Letztere resultiert aus dem Unvermögen, exakte Vorhersagen bezüglich zukünftiger Entwicklungen zu erstellen, weil wir nicht in der Lage sind, alle Faktoren, die für ein bestimmtes, zukünftiges Ereignis relevant und ausschlaggebend sind, zu beobachten, zu messen, zu berechnen oder gar zu steuern.
Wenn Menschen mit einer solchen Situation konfrontiert sind, wird oft behauptet, das Eintreten der Ereignisse sei »vom Zufall« abhängig. Es lohnt sich, kurz über diese Behauptung nachzudenken.
Im zuvor beschriebenen Sinne bezeichnet der Begriff »Zufall« eine Situation, bei der Menschen – aufgrund ihrer eingeschränkten Informationslage und Informationsverarbeitungskapazität – die Ursachen für ein bestimmtes zukünftiges Ereignis nicht exakt erkennen oder aufgrund der Komplexität des Zusammenwirkens ursächlicher Faktoren den Ausgang eines bestimmten Vorgangs im Vorhinein nicht verlässlich prognostizieren können. In solchen Situationen kann das Ursachensystem weder gedanklich noch rechentechnisch noch auf irgendeine andere Weise ausreichend durchdrungen und verstanden werden, sodass der zum Ergebnis führende Prozess für uns nicht nachvollziehbar ist und somit willkürlich – d. h. zufällig – erscheint. Die Betonung liegt dabei auf dem kleinen Wort »erscheint«, denn die Unsicherheit bezüglich des Ergebnisses eines Vorgangs resultiert meist nicht aus dem Fehlen von Ursachen, sondern aus der eingeschränkten Fähigkeit, alle Ursachen zu erkennen und ihr Zusammenwirken zu verstehen.7 Oder anders ausgedrückt: Nur weil wir etwas nicht wissen oder erkennen, heißt dies nicht, dass es willkürlich ist.
Jenseits der vorherigen Überlegungen stellt sich für die Versicherungswirtschaft und Wissenschaft die Frage, wie mit solchen Unsicherheitssituationen bzw. Zufallsvorgängen umzugehen ist, denn schließlich möchte man die Unsicherheit gerne beherrschbar und handhabbar machen. Zu letzterem Zweck wurden theoretische Konstrukte sowie mathematische, wahrscheinlichkeitstheoretische Prinzipien und Methoden entwickelt, die – nicht nur in der Versicherungswirtschaft – heute vielfach verwendet werden. Die Wahrscheinlichkeitstheorie als Teilgebiet der Mathematik beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen Behandlung und Untersuchung sog. Zufallsereignisse, -variablen und -prozesse. In der wissenschaftlichen Literatur zur Versicherungswirtschaft wird der Leser meist sehr früh mit dem Begriff »Wahrscheinlichkeit« konfrontiert, ohne dass vorab geklärt wurde, was Wahrscheinlichkeiten eigentlich sind. Die Autoren gehen häufig recht zügig dazu über, das Risikogeschäft der VU als eine Übertragung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen vom VN auf das VU zu beschreiben.8
Eine Wahrscheinlichkeit ist eine reelle Zahl zwischen 0 und 1, die Auskunft über das Ausmaß der Gewissheit geben soll, mit der ein Ereignis in der Zukunft eintritt. Wird bspw. einem bestimmten