Das Umfeld eines Versicherungsunternehmens (VU1) kann für den zuvor genannten Zweck in eine generelle Umwelt und eine spezifische Umwelt unterteilt werden. Die spezifische Umwelt umfasst die anderen Unternehmen der Versicherungsbranche sowie die Kunden und Lieferanten des Versicherungsunternehmens (VU1), welches die Analyse durchführt. Die Versicherungsbranche lässt sich weiter differenzieren in die engsten Konkurrenten, welche eine ähnliche Strategie verfolgen wie VU1, und Versicherungsunternehmen mit einem anderen strategischen Ansatz. Strategische Unterschiede können sich bspw. hinsichtlich der Produkte, des Service, der Vertriebskanäle und anderen wettbewerbsrelevanten Dimensionen, wie der Preisgestaltung oder der Zielgruppen, ergeben. Zudem sind neue Konkurrenten, die insbesondere mithilfe neuer Technologien Wettbewerbsvorteile erzielen wollen (sog. InsureTechs), zu beachten.
Die Kunden haben individuelle und vielfältige Bedürfnisse, die vom Versicherungsunternehmen erkannt und befriedigt werden müssen, um einen hohen Kundennutzen zu generieren, die Kunden dauerhaft an das Unternehmen zu binden und nachhaltige Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Beispielsweise haben Versicherungskunden das Bedürfnis, ihre Wertgegenstände (Immobilien, Autos, etc.) zu beschützen, Lebensziele (Gründung einer Familie, Karriere, etc.) zu erreichen, ihre Gesundheit zu erhalten, ihre Persönlichkeit zu entfalten und Wünsche (Reisen, Freiheit, etc.) zu realisieren. Mit dem Zugang der Kunden zu neuen Technologien, wie dem Internet und mobilen Endgeräten, ging in den vergangenen Jahren eine Änderung des Kundenverhaltens einher: Während die Kunden in der Vergangenheit oft über viele Jahre eine feste Beziehung zu einem Versicherungsunternehmen pflegten, ist in neuerer Zeit eine zunehmende Wechselbereitschaft zu erkennen. Das Internet sowie verschiedene Vergleichsportale ermöglichen bei Standardprodukten, wie der Kraftfahrzeugversicherung, einen schnellen, einfachen und kostengünstigen Vergleich und Abschluss unterschiedlicher Produkte. Mit den verbesserten technischen Möglichkeiten steigen Markttransparenz und Wettbewerbsintensität.
Im Gegensatz zu Sachgüter erzeugenden Industrieunternehmen werden in Versicherungsunternehmen keine Rohstoffe, sondern Daten und Informationen verarbeitet. Beispielsweise benötigen Versicherungsunternehmen Daten und Informationen hinsichtlich Kunden, Risiken, Schadenereignissen und Finanzmärkten. Hoch spezialisierte und gebildete Mitarbeiter, die ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in langjähriger Ausbildung erworben haben, sammeln und analysieren diese Daten und Informationen, sodass sie als Grundlage für unternehmerische Entscheidungen dienen können. Die Lieferanten der Versicherungsunternehmen sind daher insbesondere Daten-, Informations- und Wissensanbieter sowie Anbieter von Informationsverarbeitungstechniken. Auch die Hochschulen und Universitäten können als Quellen geeigneter Mitarbeiter und Wissensträger für den Informationsverarbeitungsprozess gesehen werden. Die Bedeutung der Informationsverarbeitungstechniken ist insbesondere bei den jungen Versicherungsunternehmen am Markt zu erkennen, die verstärkt auf diese Techniken setzen, um Wettbewerbsvorteile zu erzielen (InsureTechs). Sie tritt jedoch auch bei den etablierten Versicherungsunternehmen, die auf den technologischen Wandel und die neuen Wettbewerber reagieren müssen, immer stärker in den Vordergrund.
Die zuvor beschriebene, spezifische Umwelt ist in eine generelle Umwelt eingebettet, in der eine große Anzahl von Faktoren wirkt, die zwar von allgemeiner Natur sind, jedoch bedeutsame Effekte auf das Versicherungsunternehmen haben können. Für die Versicherungswirtschaft sind bspw. insbesondere politische, rechtliche, ökonomische, (informations-)technologische, aber auch ökologische, kulturelle und demographische Faktoren relevant. Zudem sind die zuvor genannten Faktoren miteinander verknüpft, sodass sie neben dem Einfluss auf die Versicherungsbranche auch einen Einfluss aufeinander ausüben. Ferner sind die Faktoren in einem internationalen Kontext zu betrachten, da eine Vielzahl der Versicherungsunternehmen international tätig ist. Die Komplexität des Gesamtsystems ist somit als hoch einzustufen, sodass strategische Entscheidungen einer gründlichen Vorbereitung bedürfen, welche eine genaue Beobachtung und Analyse der relevanten Faktoren umfassen.
Abb. 11: Die spezifische Umwelt des Versicherungsunternehmens
Abb. 12: Die generelle Umwelt des Versicherungsunternehmens
Die in Abbildung 12 dargestellten Faktoren der generellen Umwelt werden im Folgenden ausführlicher betrachtet.
Ökonomische Faktoren
Die ökonomischen Faktoren beziehen sich auf die gesamte Bandbreite des Wirtschaftsgeschehens auf nationaler und internationaler Ebene. Für Versicherungsunternehmen, die in Deutschland tätig sind, sind neben den nationalen Gegebenheiten insbesondere die wirtschaftsbezogenen Determinanten auf europäischer Ebene zu beachten. Das ökonomische Geschehen war in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten von einem relativ stabilen Wachstum geprägt (
Abb. 13: Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland von 1991 bis 2019 (in Milliarden Euro) (Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Statista)
Die gesamtwirtschaftliche Lage hat vielfältige Auswirkungen auf die Versicherungsbranche. Abhängig davon, ob sich die Volkswirtschaft in einem Aufschwung, Boom, Abschwung oder einer Depression befindet, ändern sich die Beschäftigung und das verfügbare Einkommen der Versicherungskunden. In Abschwungphasen und Depressionen wird die Nachfrage nach Versicherungsprodukten daher tendenziell abnehmen. Kunden werden in solchen Phasen i. d. R. weniger neue Versicherungsverträge abschließen und bestehende Verträge möglicherweise häufiger kündigen als in Aufschwung- und Hochkonjunkturphasen. Typischerweise sind in Krisenzeiten auch deutliche Kursverluste an den Aktienmärkten zu beobachten und Zentralbanken senken die Zinsen, sodass sich Auswirkungen auf die Kapitalanlagen der Versicherungsunternehmen ergeben. Insbesondere im Zuge der zuvor genannten Weltfinanzkrise senkte die Europäische Zentralbank die Leitzinssätze ab dem Jahr 2008 deutlich und führte ein Anleihekaufprogramm ein, welches zu einem Anstieg der Preise und einer Senkung der Zinsen am Rentenmarkt führte, an dem die deutschen Versicherungsunternehmen mit hohen Volumina investiert haben (
Während mit der Absenkung des Zinsniveaus der einmalige Effekt steigender Anleihepreise einherging, welcher sich positiv auf den Marktwert der Kapitalanlagen der Versicherungsunternehmen auswirkte, sorgt das langanhaltende, dauerhafte Niedrigzinsumfeld – insbesondere bei den deutschen Lebensversicherungsunternehmen – für Schwierigkeiten. Letzteres ist darin begründet, dass die Lebensversicherer in der Vergangenheit gegenüber ihren Kunden teils hohe Garantieverpflichtungen hinsichtlich der Verzinsung des aufgebauten Kapitalstocks bei klassischen Lebens- und Rentenversicherungen eingegangen sind, die nun aufgrund der geringen Renditen bei traditionellen Anlagen am Rentenmarkt nur schwer zu erfüllen sind. Die Kapitalanlagen der Lebensversicherer in Deutschland haben im Mittel eine wesentlich geringere Laufzeit als die Verpflichtungen gegenüber den Kunden24, sodass nach einigen Jahren eine