Falls die zuvor beschriebenen Maßnahmen nicht zu der gewünschten Verbesserung der Ertragsbasis der Lebensversicherungsunternehmen führen, besteht in einem anhaltenden Niedrigzinsumfeld bei einigen Lebensversicherern die Gefahr rückläufiger Eigenmittel27. Insbesondere in Kombination mit einem schwachen, makroökonomischen Umfeld, das mit einer sinkenden Nachfrage nach Versicherungsprodukten, einem steigenden Kreditausfallrisiko sowie Wertverlusten bei Anlageformen wie Aktien und Immobilien einhergehen kann, ist ein nicht zu unterschätzendes Gefährdungspotenzial für die gesamte Lebensversicherungsbranche gegeben.28
Leitzinsänderungen und Anleihekaufprogramme beeinflussen zudem die Geldmenge in einer Volkswirtschaft. Wenn eine wachsende Geldmenge auf ein konstantes oder gar sinkendes Angebot von Waren, Dienstleistungen und Investitionsobjekten trifft, werden deren Preise in einer Volkswirtschaft tendenziell steigen. In einem Umfeld mit niedrigen Nominalzinsen führt zunehmende Inflation somit zu Realwertverlusten des größten Teils des Kapitalstocks der Versicherungsunternehmen, der in Rentenpapieren angelegt ist. Zudem steigen die zu erwartenden nominalen Schadenaufwendungen, bspw. weil im Zuge der Inflation mit höheren Reparaturkosten zu rechnen ist. Im internationalen Kontext besteht zudem ein Zusammenhang zwischen den Zinsniveaus in einzelnen Währungsräumen und den zugehörigen Wechselkursen. Bei international tätigen Versicherungsunternehmen können auch aus den Änderungen der Wechselkurse Effekte auf deren Versicherungsgeschäft und Kapitalanlagen resultieren.
(Informations-)technologische Faktoren
Die im Hinblick auf die Versicherungswirtschaft relevanten, technischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte waren insbesondere geprägt durch eine zunehmende Digitalisierung, d. h. die Überführung von Daten und Informationen in eine digitale Form sowie die daraus resultierenden Veränderungsprozesse. Weil Daten und Informationen für das Versicherungsgeschäft – wie zuvor beschrieben – von zentraler Bedeutung sind, haben digitale Technologien, welche die Speicherung, Verarbeitung und Übermittlung derselbigen betreffen, weitreichende Auswirkungen auf die Versicherungsbranche. Veränderungen, die durch die Einführung dieser Technologien hervorgerufen werden, betreffen zunächst die zunehmende Datenverfügbarkeit: Mittels Sensoren, Computer-, Informations- und Netzwerktechnik in Geräten und Alltagsgegenständen (Internet der Dinge (IoT)) werden z. B. Gesundheitsdaten (Wearables) oder Daten aus Smart Home-Produkten gesammelt; auch die Überwachung des Fahrverhaltens im Rahmen sog. Telematik-Tarife der Kraftfahrzeugversicherung ist möglich. Das alleinige Sammeln dieser Daten bringt den Versicherern jedoch noch keine Vorteile. Erst in Kombination mit ausgefeilten Datenanalysetechniken werden eine Reduktion der Informationsasymmetrien zwischen VN und VU, neue Produkte, eine immer genauere Einschätzung des einzelnen versicherten Risikos und präventive Maßnahmen zur Schadenvermeidung möglich. Weil für die zuvor genannten Zwecke sehr große Datenmengen ausgewertet werden müssen, fasst man die in diesem Kontext eingesetzten Datenanalysetechniken auch unter dem Begriff »Big Data« zusammen. Der Umfang der hier analysierten Daten wächst sehr schnell und kann zudem in unterschiedlichen Formaten vorliegen, sodass eine Analyse mit traditionellen Methoden meist nicht möglich ist.
Weitere Auswirkungen, die aus der Digitalisierung für Versicherungsunternehmen resultieren, betreffen die Markttransparenz, das Verbraucherverhalten und die Wettbewerbsdynamik. Letztere wird auch durch das Aufkommen neuer, technologiegetriebener Unternehmen, die in den Markt für Versicherungs- und Finanzprodukte drängen, intensiviert. Die zuvor genannten Unternehmen werden auch als FinTechs oder spezieller als InsurTechs bezeichnet, wenn der Bezug zur Versicherungsbranche betont werden soll.
Definition 2.A:
FinTechs/InsurTechs sind Unternehmen der Finanzbranche/Versicherungsbranche, die neue Technologien nutzen, um innovative Produkte zu entwickeln und anzubieten und/oder Unternehmensprozesse mithilfe dieser Technologien neu zu gestalten, sodass ein Wettbewerbsvorteil gegenüber etablierten und traditionell agierenden Konkurrenten erzielt werden kann.
Mit den Errungenschaften im Bereich der digitalen Technologien gehen aus betriebswirtschaftlicher Sicht vor allem Kostensenkungs- und Rationalisierungspotenziale einher. Auch in der Finanz- und Versicherungswirtschaft lassen sich immer mehr Tätigkeiten automatisieren, sodass Geschäftsprozesse beschleunigt, Personalkosten gesenkt und gleichzeitig die Qualität der betrieblichen Leistung verbessert werden kann. Sind Prozesse vollständig automatisiert, so spricht man in Versicherungsunternehmen von sog. Dunkelverarbeitung, weil die Arbeitsschritte weitestgehend ohne menschliche Beobachtung und Einflussnahme ablaufen. Zur Dunkelverarbeitung eignen sich hauptsächlich standardisierte Vorgänge, bspw. bei der Erstellung von Bescheiden oder der Datenkontrolle, die durch gleichartige oder ähnliche Tätigkeiten geprägt sind, welche in hoher Zahl zu verrichten sind.
Weil Transaktionen, d. h. der Austausch von Verfügungsrechten29 und Informationen, bei Finanzdienstleistungen eine zentrale Rolle einnehmen, haben Technologien, welche die mit solchen Transaktionen verbundenen Kosten beeinflussen, erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Finanz- und Versicherungsbranche. Transaktionskosten entstehen vor Abschluss eines Versicherungsvertrages bspw. in Form von Informations- und Verhandlungskosten, während nach Vertragsabschluss z. B. Kosten für die Kontrolle und Durchsetzung der Vereinbarungen auftreten. Mittels digitaler Technologien wurden letztere Kosten in den vergangenen Jahren erheblich gesenkt. Mithilfe von Vergleichsplattformen können Versicherungskunden heute innerhalb kürzester Zeit im Internet eine Vielzahl von Versicherungsprodukten vergleichen und das für sie günstigste Angebot finden. Online-Makler und Contract Manager vereinfachen den Abschluss und die Verwaltung von Versicherungsverträgen.
Im Hinblick auf Transaktionen und die mit ihnen verbundenen Kosten ist auch die Entwicklung der Blockchain-Technologie zu beachten, welche die Grundlage für ein neues, dezentralisiertes Transaktionssystem legte, in der die Notwendigkeit des Vertrauens in einen Transaktionspartner durch das Vertrauen in einen automatisierten, computer- und netwerkbasierten Prüf-, Speicher- und Konsens-Mechanismus ersetzt wird. Über Blockchains können Verfügungsrechte sehr schnell und einfach übertragen werden. Viele Transaktionen, die bislang über zentrale Instanzen und Intermediäre durchgeführt wurden, können auf Blockchains zu wesentlich günstigeren Konditionen abgewickelt werden.30 Zusammen mit sog. smart contracts, d. h. Verträgen, die in Computerprogrammen digital abgebildet und mittels Blockchain-Technologie dezentral gespeichert werden können, ergeben sich spannende Anwendungsmöglichkeiten in der Versicherungswirtschaft, denn smart contracts erlauben die automatische Einhaltung und Überprüfung von Vertragsbedingungen und ermöglichen die selbsttätige und eigenständige Veranlassung von Aktionen. Sind bspw. die Schadenersatzleistungen an die Versicherungsnehmer von den Werten bestimmter, messbarer Parameter abhängig (z. B. Flugverspätung,