In den konstitutionellen Monarchien Kontinentaleuropas wurde der Richter zu einer Art Puffer zwischen der öffentlichen Meinung und dem Eigenbereich der Bürokratie. Mit einem Fuß im bürokratischen Bereich und mit dem andern im gemäßigt liberalen Lager der Zeit, zugleich aber von der eigenen Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit überzeugt, besah sich der Richter skeptischen Auges sowohl das Betragen der gerade entstehenden Massenparteien als auch die Anstrengungen der Exekutive, sie zu unterdrücken oder, wenn das nicht gelang, mit Nadelstichen zu traktieren. Oft genug gab sich der Richter große Mühe, den politischen Inhalt des Konflikts zwischen dem Staat und den neuen Massenorganisationen auf seine reine Rechtsform zu reduzieren. Dabei hielt er sich strikt an seinen ureigensten Amtsbereich: Er erfüllte weder die Erwartungen der Exekutivgewalt, die seine tätige Mitwirkung bei der Unschädlichmachung der Hydra des »Umsturzes« forderte, noch die Hoffnungen der Gegner des Regimes, die von ihm verlangten, dass er ihnen helfe, das anzuprangern, was ihnen als Niedertracht und Verrottung der Machthaber erschien.
In der Dynamik der innenpolitischen Machtkämpfe des 19. Jahrhunderts mochte sich der Richter, der gerade dabei war, sich von der politischen Vormundschaft des Regierungs- und Verwaltungsapparats frei zu machen, gelegentlich als Schlichter sehen – mit der besonderen Aufgabe, zwischen der offiziellen Staatsmaschine und der Gesamtgesellschaft zu vermitteln.12 Während er die Gesetze des Staates anwandte, fühlte er sich vom wachsamen Auge der öffentlichen Meinung beobachtet, denn sie war über die Rolle eines Sprachrohrs der Staatsautorität hinausgewachsen und verwandelte sich immer mehr in die Stimme des Gemeinwesens, wie es sich die gebildete Minderheit vorstellte. Einige der intelligentesten Organe der öffentlichen Meinung glaubten inbrünstig an die Perfektibilität der menschlichen Institutionen; also wollten sie jeden Zwang aufs äußerste Mindestmaß reduzieren und waren schnell dabei, mit dem schwersten kritischen Geschütz auf staatliche Einrichtungen einschließlich der Gerichte zu schießen, die sie bei dem Versuch ertappten, Stimmen des Missklangs zum Schweigen zu bringen. Andere, die das Bedürfnis verspürten, traditionelle Werte gegen den Ansturm ordnungswidriger und begehrlicher Massen hochzuhalten, sahen in Vorstellungen von anhaltendem politischem und sozialem Fortschritt nur Lug und Trug und betrachteten die Gerichte als Bestandteil des Verteidigungssystems der herkömmlichen Gesellschaft, als eine Art zweite Verteidigungslinie, die die vorderste Frontlinie – Beamtentum und Heer – vor geistiger und politischer Zersetzung zu bewahren hätte.
Wo die ständigen Scharmützel zwischen den Staatsorganen und ihren Feinden immer weiter zunahmen und sich zu einem Konflikt von solcher Ausdehnung und solcher Schärfe auswuchsen, dass seine Zurückführung auf den niedrigsten juristischen Nenner nicht mehr möglich war, fand sich der Richter in einer schwierigen Lage: Jede Stellung, die er bezog, musste ihn vielen als parteiisch und voreingenommen erscheinen lassen. Unter solchen Umständen konnte es leicht passieren, dass die Richterschaft selbst von dem Gegensatz zerrissen wurde, der sich durch die gesamte Öffentlichkeit zog; ein markantes Beispiel war die Dreyfus-Affäre in Frankreich. Wiewohl sich die gesellschaftliche – nicht juristische – Endgültigkeit, die dem gerichtlichen Urteil in einem politischen Fall normalerweise zukommt, ohnehin in bescheidenen Grenzen hält, kann die Staatsgewalt auch noch die Macht eingebüßt haben, die sie braucht, um die Vollstreckung des Urteils gegen das widerspenstige Individuum und seinen Anhang durchzusetzen. Dann ist das Urteil bloß ein vergängliches Moment in der Umwertung der gesellschaftlichen Werte und in der Umgestaltung des Gesamtsystems der institutionellen Vorkehrungen.
Wandel, Ideologie, Opportunität und Gerichte
Viele der innergesellschaftlichen Konflikte, die um die Jahrhundertwende im Vordergrund gestanden hatten, haben sich verflüchtigt; die Springfluten haben nur ein leichtes Wassergekräusel hinterlassen. Dafür sind andere Konflikte entstanden und aus innerstaatlichen zu weltweiten geworden. Der politische und ideologische Kampf erst zwischen dem Faschismus und der Demokratie, dann zwischen dem Kommunismus und den älteren Formen politischer Arrangements (der Massendemokratie, den halbautoritären Systemen und anderen) geht sowohl innerhalb einzelner Staaten als auch unter den Staaten vor sich und bringt neuartige und mit Ausschließlichkeitsanspruch auftretende Klientel-, Freundschafts- und Feindschaftsbeziehungen hervor. Die Justiz wird zwangsläufig in den Strudel dieser Konflikte hineingezogen, denn mit ihnen haben sich – ungeachtet der traditionellen Formeln, die noch in Gebrauch sein mögen – die Grundvoraussetzungen und die Arbeitsmethoden der Rechtsprechung grundlegend gewandelt. Diese Wandlungen lassen sich folgendermaßen kennzeichnen:
1. Die allgemeine Ausbreitung des politisch-ideologischen Konflikts und der mit ihm verbundenen militärischen und politischen Risiken hat alle politischen Regimes dazu gebracht, die polizeilichen und formlos-institutionellen Kontrollen über den Umgang, die organisatorischen Verbindungen und die politische Betätigung der Staatsbürger wesentlich zu verschärfen. Alle Staatsgebilde beschränken besonders nachdrücklich die Bewegungsfreiheit der Bevölkerungsteile, von deren Tätigkeit sich in dieser oder jener Beziehung annehmen lässt, dass sie auf die ideologische oder materielle Wehrfähigkeit des Landes Rückwirkungen haben könnte. Da die zu diesem Zweck ausgebauten Überwachungs- und Kontrollfunktionen zu einem beträchtlichen Teil die Wirtschaft, die gesellschaftlichen Beziehungen und Nebengebiete des Politischen betreffen, liegen sie abseits von der Zone direkten politischen Zwanges; sie gelangen daher nur peripher und beiläufig in den Bereich gerichtlicher Prüfung.
2. Solche Kontrollen werden von der großen Mehrheit der Bevölkerung durchaus nicht mit Empörung abgelehnt; ganz im Gegenteil: Sie entsprechen den entscheidenden Meinungstrends der modernen Massengesellschaft.
3. Zum Unterschied von der öffentlichen Meinung des 19. Jahrhunderts vollzieht sich die Meinungsbildung in der heutigen Gesellschaft auf einer Massengrundlage; sie zieht die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in ihren Strahlungsbereich. Dieser Wandel in der Zusammensetzung des erreichbaren Publikums und die entsprechende Ausrichtung der Massenbeeinflussungsmedien haben die öffentliche Meinung einförmiger, einheitlicher, weniger wach und viel unkritischer gemacht; die Politik, die bei der Mehrheit kein erstrangiges Interesse beansprucht, ist für den Genuss der Güter des Massenverbrauchs nur von untergeordneter Bedeutung. In dem Maße, wie die Politik in eine fremdartige, schlecht übersehbare und chaotische Welt neue Anforderungen hineinträgt, löst sie defensive und betont ethnozentrische Reaktionen aus: Die Menschen sind geneigt, die Zeit, in der sie leben, und ihre situationsbedingten Institutionen als allgemeingültige Vorbilder anzusehen. Der im Innern Abweichende und der potentielle äußere Feind erscheinen ihnen gleichermaßen als Todfeinde des Menschengeschlechts.
4. Aus vielfältigen Gründen, die mit den traditionellen Gesellschaftsstrukturen und gesellschaftlichen Gegensätzen und mit der Verschiedenheit der erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe zusammenhängen, haben sich Ideologien des 19. Jahrhunderts nicht nur in gewissem Umfang erhalten (so in Italien, in Griechenland und – weniger stark – in Frankreich), sondern auch mit den neuen, im Weltmaßstab ausgetragenen ideologischen Gegensätzen verflochten und verfilzt. Das hat die Herausbildung einer allgemeingültigen und allenthalben akzeptierten Meinung vereitelt und innerhalb der einzelnen Staatsgebilde zu einer politischen Polarisierung