Politische Justiz. Otto Kirchheimer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Otto Kirchheimer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935528
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Territorialstaates und der Zuständigkeit der Kirche. Diesem Versuch der Herstellung eines Zuständigkeitsgleichgewichts kommt indes gerade in unserer Ära größere Beachtung zu, in der der Territorialstaat an Bedeutung verliert, während überstaatliche Fachbehörden im Aufstieg sind und internationale Bewegungen in zunehmendem Maße, wenn auch ohne förmliche Anerkennung, Ansprüche auf Gefolgschaft und Treue anmelden. Der bewegten Geschichte der Kompetenzteilung zwischen Staat und Kirche lässt sich jedenfalls entnehmen, dass es in der Theorie leichter war als in der Praxis, Bereiche ausschließlicher Zuständigkeit auszusondern und die in Inquisitionsverfahren erforderliche Zusammenarbeit zu erreichen. Von der Gefangennahme Papst Martins I. (653 - 656) bis zu den Tagen der Jeanne d’Arc führten auseinanderstrebende Interessen und Veränderungen im gegenseitigen Kräfteverhältnis immer wieder dazu, dass die Zuständigkeitsgrenzen durchbrochen wurden. Bald lag der Konflikt offen zutage, bald verschleierten ihn mehr oder minder durchsichtige Fiktionen.

      Umgekehrt lagen die Dinge bei der Anklage gegen William Laud, Erzbischof von Canterbury, und Thomas Wentworth Earl of Strafford, die beiden Hauptstützen Karls I. von England: Nachdem sich das Oberhaus geweigert hatte, der vom Haus der Gemeinen beschlossenen Anklage gegen sie Folge zu leisten, gingen die Gemeinen aus eigener Machtvollkommenheit mit einer bill of attainder gegen die verhassten Würdenträger vor. Dieser revolutionäre Akt von 1640 brachte zum Ausdruck, dass das alte Gleichgewicht der Gewalten nicht mehr bestand: Das demokratisch gewählte Unterhaus nahm sich das Recht, über politische Fälle selbst zu Gericht zu sitzen.

      Die vierte Kombination, das Gleichgewichtsprinzip der Gegenwartsgesellschaft, geht von der Allgegenwart des fachlich vorgebildeten Berufsrichters aus, der an seine Aufgabe mit spezialisierten Kenntnissen und spezialisierter Erfahrung herangeht. Charakteristisch für ihn sind Professionalisierung, Spezialisierung, gesicherte Amtsausübung mit Versorgungsvorrechten und die Berufung auf das Gesetz, ein dem äußeren Anschein nach neutrales Bezugsschema, das jedoch die Gegenforderung nach politischer – heutzutage also demokratischer – Kontrolle lebendig werden lässt. Die erste Stufe der demokratischen Kontrolle ist die Beteiligung ausgewählter Angehöriger der Volksmasse an einigen Phasen des gerichtlichen Verfahrens, das zur Urteilsfindung führt. (Die kontinentaleuropäische Praxis schließt die Geschworenengerichte von der richterlichen Voruntersuchung aus und ist nach und nach zu einer Regelung übergegangen, bei der die Laienbeisitzer gemeinsam mit den Berufsrichtern an allen Phasen der Urteilsfindung teilnehmen; sowohl in der kontinentaleuropäischen als auch in der englisch-amerikanischen Praxis liegt die Prozessleitung in den Händen des Berufsrichters, und das englisch-amerikanische Verfahren überlässt dem Berufsrichter alle Rechtsfragen ebenso wie die Verhängung der Strafe.)

      In diesem Mischtyp volksrichterlich-berufsrichterlicher Gerichtsbarkeit ist das Volkselement schwächer als das berufliche; das liegt daran, dass dem Geschworenen die fachliche Ausbildung fehlt und das Schwurgericht nur in begrenztem Umfang repräsentativ ist. Anders als das politische Staatsorgan, das über politische Gegner zu Gericht sitzt, vertritt dieser eigens ausgesuchte »Querschnitt« des Volkes, der den Berufsrichtern zur Seite steht, in der Tat Meinungen, die unter dem Volk in Umlauf sind; aber er hat nicht den meinungsintegrierenden und meinungsbildenden Charakter einer echten politischen Vertretung.

      Gerichte, die speziell und ausschließlich für politische Komplexe zuständig sind, können für die Aburteilung besonderer politischer Vergehen ohne Berücksichtigung besonderer Kategorien von Tätern oder nur für die Aburteilung politisch hochgestellter Personen bestellt sein. Je nach den Umständen überwiegt in ihnen das politische oder das berufsrichterliche Element. An dem einen Ende der Skala kann man sich das französische Revolutionstribunal von 1793 denken, dessen fünf richterliche und zwölf Laienmitglieder gleichermaßen vom Konvent berufen wurden, und am andern die obersten Gerichte oder Verfassungsgerichte der heutigen westeuropäischen Länder, in denen das politische Element auf diese oder jene Form der Beteiligung des Parlaments an der Berufung der Richter, die Berufsjuristen sein müssen, reduziert ist. Zwischen diesen Extremen hat es mancherlei Mischformen gegeben.

      Äußerlich scheint das Auf und Ab eines langwährenden Kampfes mit dem wenigstens zeitweiligen Sieg des bürokratisch-richterlichen über das politisch-demokratische Element geendet zu haben. Die Gerichte werden mit Berufsrichtern besetzt, und die Laien bleiben draußen oder können nur am Rande an der Urteilsfällung teilnehmen. Aber trotz dieses Triumphes des Berufsprinzips in der Besetzung der Gerichte und in der Auswahl des richterlichen Personals haben Veränderungen, die in den letzten hundert Jahren vor sich gegangen sind, der Rolle des Berufsrichters einen abgewandelten Sinn gegeben: Dem berufsrichterlichen Prinzip sind in gewissem Umfang politische Gegengewichte beigegeben worden.

      Am leichtesten vollzog sich der Übergang zum Richter der nachabsolutistischen Zeit in der englisch-amerikanischen Atmosphäre. Hier hatte der Richter, der aus den Reihen der erfolgreicheren Anwälte