Politische Justiz. Otto Kirchheimer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Otto Kirchheimer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935528
Скачать книгу
Kein Wunder, dass er sich, durch unzählige Detailbestimmungen ergänzt, aber nicht von ihnen abgelöst, über viele Jahrhunderte erhalten hat. Die besonderen Bedürfnisse der Machthaber, die nach Abhilfe in einer örtlich begrenzten oder vergänglichen Situation verlangen, treten nun in Konkurrenz mit den kautschukartigsten allgemeinen Formeln, die allen künftigen Bedarfsfällen Rechnung tragen sollen. Wird aber jede Handlung, die gegen die Lebensinteressen des Staatsgebildes verstößt, als politisches Verbrechen angesehen, so haben die Machthaber Blankovollmacht und können nach eigenem Gutdünken bestimmen, wo das Schutzbedürfnis des Staates anfängt und wo es aufhört. Im Gegensatz zum greifbaren und viel enger umgrenzten Tatbestand der Verstöße gegen das Eigentum und vor allem gegen die physische Sicherheit der Person besteht die Gefährdung des Staatsganzen oft in einer kaum fassbaren Beeinflussung zwischenmenschlicher Beziehungen in einem Sinne, der den Augenblicksinteressen der bestehenden Gewalten zuwiderläuft. Aber zumindest ist die behauptete Verletzung der Rechtspflicht, Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen, Voraussetzung der Bestrafung.

      Das republikanische Rom ließ bei maiestas-Delikten die Zeugenaussage eines Sklaven, der gefoltert werden durfte, sowohl zugunsten als auch zuungunsten seines Besitzers gelten. Seit den Zeiten des Tiberius durften in Verfahren, bei denen es um die Verletzung der maiestas ging, auch Bürger der Folter unterworfen werden. Von der Werdezeit der westlichen Staaten im 13. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts akzeptierten die Gerichte der Territorialherrscher ebenso wie die kirchlichen Gerichte die Folter als normalen Bestandteil des Untersuchungsverfahrens. (Heute sind solche Praktiken weniger allgemein oder weisen allenfalls ein offiziöses, kein offizielles Gepräge auf.) Zur Entwicklung der Inquisition hatte das brennende Interesse der Kirche an der Bekämpfung abweichender Glaubensvorstellungen Entscheidendes beigetragen.

      In damaligen Zeiten erlegten sich die Machthaber, sofern ihre Interessen betroffen waren, bei der Festlegung und Anwendung der Normen nur minimale Beschränkungen auf, und wo Vorteile zu erlangen waren, wurde auf sie selten verzichtet. Landläufige Vorstellungen über die Förmlichkeit der rechtlichen Handhabung politischer Fälle in früheren Perioden stammen aus der ganz anderen Atmosphäre des 19. Jahrhunderts und müssen in die Irre führen. Politische Strafverfahren wurden oft im Handumdrehen abgewickelt, sofern nicht besondere politisch-taktische Erwägungen, die politische Position des Angeklagten oder die Stärkeverhältnisse unter den Prozessbeteiligten dagegen sprachen; so war es jedenfalls bis zum 18. Jahrhundert: Bis dahin konnte ein Verteidiger kaum Einfluss auf die Prozessführung nehmen, und die Ladung von Zeugen, die zugunsten des Angeklagten aussagen könnten, wurde oft radikal beschnitten. In vielen Ländern wurden politische Fälle hinter verschlossenen Türen als geheime Staatssache erledigt; verhört, und bisweilen endlos verhört, wurde im