Was sich auf diese verwickelten Fragen antworten lässt, ist weder eindeutig noch allgemeingültig. Die Behandlung wirklicher oder potentieller Gegner durch die verschiedenen politischen Regimes hat viele politische Wandlungen durchgemacht und ist auch in der Gegenwart nicht minder wechselvoll und wandelbar. In den meisten Geschichtsperioden, von denen wir genug wissen, wurde der politischen Aktion von Gruppen oder Personen, die mit den Zielen der Machthaber in Konflikt gerieten, keine Sphäre garantierter Straffreiheit eingeräumt. Um den Besitz und die Lenkung des staatlichen Zwangsapparates mochte wohl gerungen werden, aber jede der kämpfenden Parteien erachtete es als selbstverständlich, dass, wer siegte, auch über die Leistungs- und Treuebereitschaft der Staatsbürger verfügen durfte. Schon Solon soll diese epikureische Variante menschlichen Verhaltens so schädlich gefunden haben, dass er gegen sie mit einem besonderen Gesetz angehen wollte. »… vermutlich kam es ihm«, interpretierte Plutarch, »darauf an, daß niemand dem Staat gegenüber lau und gleichgültig sein oder sich gar, nachdem er sich und das Seine in Sicherheit gebracht, darin sonnen sollte, daß er an der Not und den Bedrängnissen des Vaterlandes nicht teilhabe; vielmehr sollte jeder sogleich die beste und gerechteste Partei ergreifen, mit ihr Wagnisse auf sich nehmen und ihr helfen – und nicht erst in Ruhe und Sicherheit abwarten, wer wohl die Oberhand behalten werde.«3
Solon zum Trotz überwog auf langen Teilstrecken das Prinzip der »Gleichschaltung«. Sofern politische Abweichungen geduldet wurden, beruhte die Großzügigkeit der Machthaber auf der relativen Stärke oder Schwäche der etablierten Machtpositionen; sie entsprang nicht selten einer einmaligen, sich kaum wiederholenden Kräftekonstellation. Erst im 19. Jahrhundert wurde in Staaten, die man damals – vielleicht voreilig – zivilisiert nannte, politischen Feinden der bestehenden Ordnung ein gewisses Maß an verfassungsmäßig verbürgtem Schutz mehr oder minder konsequent zugestanden. Im 20. Jahrhundert ist diese inoffiziell sanktionierte Sphäre systemfeindlichen Verhaltens wieder zusammengeschrumpft; sie ist zwar keineswegs verschwunden, aber doch in den meisten Teilen des Erdballs problematisch geworden. Was ist nun unter diesem Aspekt die Funktion der Gerichte in politischen Auseinandersetzungen? Lässt man die Verzierungen, Funktionserweiterungen und Rechtsgarantien des konstitutionellen Zeitalters außer Acht, so stellt sie sich, einfach und ungeschliffen ausgedrückt, so dar: Die Gerichte eliminieren politische Feinde des bestehenden Regimes nach Regeln, die vorher festgelegt worden sind.
Unter den vielerlei Vorkehrungen, die dazu dienen, das jeweils geltende Regime von seinen politischen Feinden zu befreien, erzielt die gerichtliche Aburteilung weder die zeitigsten noch die sichersten Resultate. Das angestrebte Ziel – die Ausschaltung des Gegners aus dem politischen Wettbewerb oder die Fortnahme seiner irdischen Güter – kann auch mit anderen Mitteln erreicht werden. Einige davon bringen die Anwendung brutaler Gewalt ohne jede Rechtsform mit sich und gelten als in höchstem Maße ordnungswidrig. Andere wieder gehören zum normalen Arsenal der Politik: der Stimmzettel, der in neuerer Zeit die Waffengewalt als politisches Kampfmittel zum Teil ersetzt, wenn auch nicht ganz verdrängt hat; die Kanzel, heute in gewissem Umfang von ihrem modernen Äquivalent, dem Massenkommunikationsmedium, abgelöst, das sämtliche Register des psychologischen Druckes zu ziehen weiß; schließlich des Makedonierkönigs Philipp Esel mit den Goldsäcken, die keinen Lärm machen und keine Spuren hinterlassen. Alle diese Mittel besorgen dasselbe, was das Gericht besorgen soll, und tun es, wenn man nur das allernächste Ziel im Auge hat, sogar besser. Gehört das Gerichtsverfahren wirklich ganz und gar in dieselbe Kategorie? Ist es nur ein anderes Werkzeug im kontinuierlichen Prozess der Stabilisierung oder Verschiebung der Machtverhältnisse? Worin besteht das qualitativ andere Element, das über die Ebene des Nächsterreichbaren hinausgreift?
Das Gerichtsverfahren dient primär der Legitimierung, damit aber auch der Einengung politischen Handelns. Die Sicherheitsinteressen der Machthaber mögen von der verschiedensten Art sein; manche sind, wenn sie auch nicht ohne weiteres einleuchten, durchaus rationalen Ursprungs, andere wieder Phantasieprodukte. Dass sich die Machthaber auf die Festlegung eines Maßstabes einlassen, der, mag er noch so vag oder noch so ausgeklügelt sein, die Gelegenheiten zur Beseitigung wirklicher oder potentieller Feinde einengt, verspricht ihnen ebenso reichen Gewinn wie ihren Untertanen. Die gerichtliche Feststellung dessen, was als politisch legitim zu gelten habe, nimmt unzähligen potentiellen Opfern die Furcht vor Repressalien oder vor dem Liquidiertwerden und fördert bei den Untertanen eine verständnisvolle und freundliche Haltung gegenüber den Sicherheitsbedürfnissen der Machthaber.
Je reichhaltiger die äußere Ausstattung der Authentifizierungs-apparatur, umso größer die Wahrscheinlichkeit der Anteilnahme der Volksmassen an ihren Mysterien. Ist das Verfahren zum größeren Teil dem Blick der Öffentlichkeit entzogen, so kann das Ja der großen Masse nur durch das Prestige derer, die da Recht sprechen, erlangt werden, ob dies Prestige auf Tradition, auf Magie oder auf der viel dünneren Glorie der rational zu bewertenden beruflichen Qualifikation beruhen möge. In einem Verfahren aber, das der Öffentlichkeit zugänglich ist, kann sich die Authentifizierung, die Regularisierung des Außerordentlichen, unter günstigen Umständen so auswirken, dass die Volksmasse dem Regime Verständnis, Sympathie und Bereitschaft zum Mitmachen entgegenbringt.
Bei den heutigen Massenkommunikationsmitteln ist die Beteiligung am Gerichtsprozess nicht mehr auf die im Gerichtssaal Anwesenden oder – mit Verspätung – auf eine schmale Schicht von Gebildeten und Interessierten beschränkt. Wenn die Prozessveranstalter es wünschen, kann faktisch die ganze Welt dem Ablauf des Verfahrens folgen. Bei dieser Prozedur kann ein praktisch unbegrenztes Publikum Schritt für Schritt an der Offenlegung der politischen Wirklichkeit teilnehmen, wie sie hier dramatisch rekonstruiert und prozessgerecht auf Gesichtspunkte reduziert wird, die dem Massenverständnis leicht eingehen. Mit der Dynamik der Massenteilnahme wird eine neue politische Waffe geschmiedet. Die Massenmobilisierung des Meinens kann ein Nebenprodukt des Gerichtsverfahrens sein; sie kann aber auch – das ist in neuerer Zeit oft genug geschehen – ganz und gar an die Stelle des ursprünglichen Verfahrenszweckes, der Feststellung des politisch Legitimen, treten. Und sie kann die Grenzen, die dem Gerichtsverfahren normalerweise gezogen sind, weit verschieben oder ganz beseitigen.
Der Staat und seine Gegner
Was ein Staatsgebilde mit seinem Arsenal an Gesetzen, Sicherheitsplänen und Blankovollmachten anfängt, richtet sich nach der Geistesverfassung seiner Führung und nach dem Gewicht artikulierter Gegnerschaft, die sich im politischen Leben des Landes geltend macht. Diese beiden Faktoren hängen nicht notwendigerweise miteinander zusammen. Sind weite Schichten der Bevölkerung mit dem Regime unzufrieden, so wird es sich als politisch wirksam nur dann erweisen, wenn es von der Waffe der Justiz planvoll und überlegt Gebrauch macht: Wollte es seinem Justizapparat erlauben, jedem Einzelfall nachzulaufen, der sich zu einem Prozess aufbauschen ließe, so geriete es bald außer Atem und verlöre Gesicht. Die Gegner zu freiwilliger Zustimmung zu bringen, ist im günstigsten Fall ein schwieriges und langwieriges Unterfangen; potentielle Gegner dazu zu bewegen, dass sie Vorsicht walten lassen und sich fügsam verhalten, ist einfacher, setzt aber voraus, dass man nicht jeden gerade greifbaren Widersacher, sondern nur den wichtigen und gefährlichen Feind stellt. Wahllose Versuche, allseitigen Gehorsam zu erzwingen, führen leicht dazu, dass sich niemand mehr an Gesetze und Vorschriften hält, dass also die bestehende Ordnung nicht gefestigt, sondern untergraben wird.
Um für die Niederhaltung politischer Gegner nicht gefühlsmäßige Schlagworte, sondern rationale Kriterien entwickeln zu können, muss das Regime die Fähigkeit aufbringen, zwischen dem isolierten Zufallsgegner und der organisierten Feindesgruppe zu unterscheiden und im Lager des organisierten Feindes Führer und Gefolgschaft auseinanderzuhalten. Ein Regime, dem das nicht gegeben ist, muss sich auf ein Risiko einlassen, das in keinem Verhältnis zum erzielbaren Erfolg steht. Einen unbedeutenden, isolierten Gegner zu schikanieren, mag eine billige Vorsichtsmaßnahme