Die Justiz in der Politik
»Erstaunlich ist der meinungsbildende Einfluß, den die Menschen im allgemeinen dem Eingriff der Gerichte einräumen. Dieser Einfluß ist so groß, daß er der Form der Gerichtsbarkeit noch anhaftet, wenn die Substanz bereits dahin ist; er gibt dem Schatten einen Leib.«
Alexis de Tocqueville,
De la Démocratie en Amérique, I, 8
Jedes politische Regime hat seine Feinde oder produziert sie zu gegebener Zeit. Ausdrücklich soll hier von den Feinden eines Regimes, nicht von den Gegnern dieser oder jener Regierung die Rede sein. Verschieden ist bei »Regime« und »Regierung« die Größenordnung dessen, was sich verändert: Frankreichs Dritte Republik, die Ära Pétain, die Vierte und die Fünfte Republik zeigen verschiedene Regimes an; dagegen sind nur wechselnde Regierungen innerhalb eines Regimes gemeint, wenn aus der Zeit der Dritten Republik Tardieu oder Blum, aus der Pétain-Ära Darlan oder Laval, aus den Tagen der Vierten Republik Laniel oder Mendès-France genannt werden. Bisweilen verwischt sich der Unterschied: Wenn es keinem Zweifel unterliegt, dass die Reichskanzler Hermann Müller-Franken und Gustav Stresemann nur verschiedenen Regierungen unter demselben parlamentarischen Regime der Weimarer Republik ihren Namen gaben, so kommt man anderseits um die Feststellung nicht herum, dass Heinrich Brüning, formal ebenfalls ein Reichskanzler der Weimarer Republik, in Wirklichkeit bereits einem anderen Regime vorstand. Und erst die Zukunft wird darüber befinden, ob Bundeskanzler Konrad Adenauer der Chef einer von vielen Regierungen der Bundesrepublik war, oder ob seine Regierungszeit ein Regime besonderer Prägung verkörperte, von dem sich die Regimes seiner Nachfolger dem Wesen nach unterscheiden werden. Wenn es in dieser Hinsicht eine Unterscheidungsschwierigkeit gibt, so hat sie weniger mit der Terminologie als mit fließenden Übergängen der politischen Realität zu tun, und es wird trotz solchen Schwierigkeiten zweckmäßig sein, an der Unterscheidung von Regime und Regierung festzuhalten.1
Einem Regime, dessen Struktur oder dessen Vorkehrungen für den Elitenwechsel den Stempel der Herrscher-Weisen platonischer Abkunft trügen, könnte es vielleicht beschieden sein, die geistigen und materiellen Güter nach diesem oder jenem vorgefassten Plan zur allgemeinen Zufriedenheit zu verteilen. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Von fast jedem politischen Regime darf man annehmen, dass es ein Mischgebilde voller Widersprüche sei, aus Tradition, geschichtlichem Zufall und Augenblicksanpassungen an Zeitnöte hervorgegangen; alle Ansprüche und Forderungen, die an die bestehenden Gewalten herangetragen werden und von ihnen sanktioniert werden sollen, lösen infolgedessen in der Regel, welche Behandlung sie auch immer erfahren mögen, gegensätzliche Reaktionen aus. Die sich daraus ergebenden Kämpfe zwischen den jeweiligen Machthabern und ihren Feinden, ja überhaupt zwischen konkurrierenden Bewerbern um die politische Macht, können die mannigfaltigsten Formen annehmen, auch die des Rechtsstreits.
Von der Rolle der Gerichte
Die Anrufung der Gerichte ist gewiss nicht die markanteste Form der Austragung politischer Machtkämpfe, und sie wird auch nicht am häufigsten in Anspruch genommen. Zumeist vollziehen sich dramatische Veränderungen in der Zusammensetzung der Eliten, in der Rangordnung der Gesellschaftsklassen oder im Geltungsbereich politischer Ordnungssysteme unter Umgehung der Gerichte. Das gilt auch von den nicht minder dramatischen Akten der Wiederherstellung einer vorübergehend erschütterten alten Ordnung: Gerichte sind selten dabei, wenn ein Bauernaufstand niedergeschlagen oder wenn der Versuch einer den überlieferten Glaubenssystemen feindlichen Gesinnungsgemeinschaft, die weltliche Macht an sich zu reißen, im Keime erstickt wird. Haben die Gerichte bei einschneidenden Veränderungen überhaupt mitzusprechen, so beschränkt sich ihre eher gefügige Mitwirkung meistens darauf, dass sie Ergebnisse besiegeln, die ganz woanders zustande gebracht worden sind.
Nur selten sind die Gerichte an Entscheidungen beteiligt, die an der Spitze getroffen werden: Ihre regulären Aufgaben verweisen sie auf die mittleren Stufen in der politischen Kampfordnung. Vornehmlich fungieren sie in der Domäne der, wie es scheint, nie aufhörenden Vorstöße und Gegenstöße, mit denen Machtpositionen gefestigt werden, mit denen die Autorität des bestehenden Regimes Freunden und Unentschlossenen aufgeprägt wird; häufig werden aber dieser Autorität von Gegnern des Regimes neue Symbolbilder und Mythen entgegengehalten, mit denen das, was gilt, bloßgestellt und ausgehöhlt werden soll. Hier haben die Gerichte unter Umständen einiges zu sagen. Aber auch auf diesen mittleren Stufen sind sie ebenso wenig wie andere Staatsorgane der alleinige Kampfboden, auf dem die Konflikte zwischen widerstreitenden politischen Ansprüchen ausgefochten werden. Es ist am wahrscheinlichsten, dass der Kampf gleichzeitig im Parlament und in der Verwaltung, in der Presse und in der Wirtschaft, in der Schule und in der Kirche geführt wird.
Der Kampf um politische Herrschaft kann sich mithin auf viele und weite Gebiete erstrecken. Solange die letzte Autorität beim Territorialstaat liegt, werden indes politische Entscheidungen, die sich nicht im Dunkel geheimer Kammern und Konventikel verlieren, durch das Parlament, die vollziehende Gewalt und die Gerichte hindurchgehen müssen. Den Gerichten fällt dabei freilich der schmalste Entscheidungsbereich zu. Das Parlament macht die Gesetze und beaufsichtigt – wenigstens theoretisch – die allgegenwärtige Exekutivgewalt. Die Exekutive legt den politischen Kurs fest und bestimmt die Richtung der Verwaltungsarbeit. Besteht nun etwa die Rolle der Gerichte bei Entscheidungen über Angelegenheiten der Allgemeinheit darin, dass sie an die wichtigsten Probleme mit eigenen inhaltlichen Lösungen herangehen? Keineswegs; sie müssen lediglich bereit sein, in einer Vielzahl von Konfliktsituationen, unter denen der Zusammenprall zwischen den bestehenden Gewalten und ihren Feinden besonders hervorsticht, ordnend und regelnd einzugreifen. Vor mehr als drei Jahrzehnten hat Rudolf Smend zwar eindringlich auseinandergesetzt, dass die Verfassung die Gerichte von der Staatsleitung unabhängig gemacht und sie damit ausdrücklich von der Pflicht befreit habe, sich in den Dienst der staatlichen Integration zu stellen; praktisch aber, meinte er anschließend, könne es sein, dass die Gerichte nicht nur der Integration der Rechtsgemeinschaft, sondern auch der staatlichen Integration dienten.2
Allerdings hat es der Staat lange Zeit und in vielen Bereichen abgelehnt, sein Verhalten und die von Privaten gegen seine Organe geltend gemachten Ansprüche der gerichtlichen Entscheidung zu unterbreiten; ja, er lehnt das häufig auch heute noch ab, wenn auch in einem schrumpfenden Sachumkreis. Überdies geschieht es nicht selten, dass Gerichte, die Schwierigkeiten bei der Vollstreckung entsprechender Entscheidungen voraussehen, lieber für Enthaltsamkeitstheorien optieren und bestimmte Komplexe als »politische Fragen« von sich weisen, als dass sie das Prestige der gesamten richterlichen Institution aufs Spiel setzten. Umgekehrt wehren sich Staatswesen, die unter rechtsstaatlichen politischen Ordnungen operieren, im Allgemeinen nicht dagegen, das Schicksal ihrer Gegner zum Gegenstand von gerichtlichen Entscheidungen zu machen, um auf diese Weise die Bewegungsfreiheit oder die politischen Rechte dieser Gegner beschneiden zu können. Daneben ist es durchaus möglich – und seit dem 19. Jahrhundert eine immer häufigere Erscheinung –, dass sich auch Feinde der bestehenden Ordnung mit ihren Beschwerden an die Gerichte wenden: sie verwickeln führende Männer des Regimes in Beleidigungs- oder Verleumdungsprozesse, sie verlangen Schadenersatz von Behörden oder Beamten, denen sie Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit vorwerfen, sie gehen gegen Freiheitsentzug mit Habeaskorpusklagen und ähnlichen Rechtsbehelfen an.
Ist darin ein Zeichen dafür zu sehen, dass die Staatsgewalt ihren Feinden gegenüber großzügig und nachgiebig geworden ist? Ist sie nun bereit, Schutzmaßnahmen gegen Gegner und überhaupt die Auseinandersetzung mit ihnen einem Organ zu überantworten, das ihrer unmittelbaren Kontrolle nicht untersteht? Kommt es ihr mehr darauf an, dadurch Prestige zu gewinnen, dass ein solches unabhängiges Organ den Standpunkt der Machthaber anerkennt, als darauf, die uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit in der Behandlung von Widersachern zu behalten? Ergibt sich aus der Unmöglichkeit einer klaren Scheidung zwischen der eingriffssicheren privaten Sphäre und dem Sicherungsbereich des öffentlichen Interesses ein so hoher Vorrang persönlicher Unantastbarkeit, dass damit alle Widerstände gegen wirksame Schutzgarantien für Einzelpersonen und Personengruppen